Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 8. August 2019, Teil 7
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Endlich mal im normalen Filmprogramm ein Film, der nicht aus den USA, aus Deutschland oder Frankreich kommt. Denn auf diese Länder mit Schwerpunkt USA sind unsere Kinos abonniert, weshalb man oft glaubt, daß woanders gar keine Filme gedreht werden. Bei den Krimis ist es ähnlich. Darüber hat unsere Kollegin Elisabeth Römer anhand der Krimibestenliste gerade das Mißverhältnis angesprochen, wie wir die Welt durch die amerikanische Brille wahrnehmen.
Bei ACID nun wundert man sich, daß dieser russische Film einer sich der Gesellschaft entziehenden, zwar aufbegehrenden, aber in tiefer Gleichgültigkeit und Depression versunkenen Jugend überhaupt die heimische Zensur überwand und dann sogar für das Zeigen im Ausland freigegeben wurde. Aber auch das sind Vorurteile unsererseits, was daran liegt, daß wir über Rußland nur im Zusammenhang mit Zensur und Unterdrückung anderweitiger politischer Meinungen Informationen erhalten. Wie man dort wirklich lebt, wissen wir doch gar nicht. Auf jeden Fall ist ACID harte Kost.
Daß wir überhaupt diesen Film kennen, der nicht in Pressevorführungen lief, verdanken wir goEast, dem Festival des mittel- und osteuropäischen Films, wo wir diesen Film sehen konnten – Kritik unten als Link -, der dann auch den Hauptpreis des Festivals erhielt: die mit 10 000 Euro dotierte Goldene Lilie. Die Jury hatte ihre Entscheidung begründet, daß es sich um einen meisterhaften Debütfilm handele, der die Energie und Verzweiflung der Millennial-Generation spürbar mache: „Die Geschichte ist brillant geschrieben und konstruiert. Sie überzeugt von Anfang bis Ende in der Art, wie sie den Charakteren durch das urbane zeitgenössische Setting folgt.“
Der so gelobte Alexander Gorchillin – wir kennen ihn bisher durchaus als Schauspieler, z.B. aus den Filmen von Kirill Serebrennikov, gerade LETO, davor DER DIE ZEICHEN LIEST - hat sich eine Menge vorgenommen angesichts dieser orientierungslosen Jugend, die von sich selber sagt, daß ihre einzige Fähigkeit sei, ein iPhone zu laden. Doch, doch, es ist schon mehr, was sie können, allerdings lebensgefährlich mehr. Denn der Filmtitel ACID, im Russischen KISLOTA, spielt nicht so sehr auf LSD an, wofür ACID auch steht, sondern schlicht die Übersetzung aus dem Englischen als Säure. Warum allerdings der deutsche Titel nicht Säure heißt, versteht man nicht. Aber wahrscheinlich ist die Mehrdeutigkeit von ACID das Gewollte, auch wenn es bei dem grauslichen Geschehen, dessen Zeuge wir werden, tatsächlich um Säure geht. Da ist einmal der Künstler Vasilisk, der die vergangenen Helden der Sowjetunion in ein Säurebad steckt, damit sie verstümmelt herauskommen, derangiert auf jeden Fall. Aber Säure bestimmt auch das Leben, denn eine gelangweilte Jugend, ohne Ziele, ohne Interesse für sich und andere, beschränkt auf die Gruppe von wohlhabenden Jugendlichen, um die es hier geht, kommt sogar auf solche Ideen, Säure zu trinken.
Dem ist allerdings eine grausliche Situation vorangegangen. Die Freunde Vanya und Petya (Aleksandr Kuznetsov) führen das Desaster vor. Der zugedröhnte Vanya steht an der Rampe und brüllt vor sich hin, daß er gleich springen werde. Da antwortet sein nicht weniger weggetretene Petya: „Wenn Du springen willst, dann spring!“ Was dieser tut.
Auch die Beerdigung führt nicht zur Einkehr, sondern zum nächsten Besäufnis. Dort übernimmt neben Petya nun der Musikproduzent Sasha (Filipp Avdeyev) die Filmhandlung, der mit seiner Freundin Karina auf den oben angesprochenen Künstler Vasilisk trifft, der – völlig absurd – den beschnittenen Penis von Sasha als Fotoobjekt entdeckt, während Petya wirklich Säure trinkt. Allerdings zu wenig, um zu sterben, aber genug, um verätzte Stimmbänder zu haben. Die ACID-Flasche übernimmt durch ständige Anwesenheit eine eigene Rolle, aktiv allerdings erst wieder bei einer Taufe am Schluß. Wir folgen Sashas Geschichte, aber eine ist so öde wie die andere, weil es eine Jugend ohne Zukunft ist, eine Jugend, die keine Zukunft sieht, müßte man genauer sagen. Die Musik ist die der Rapperszene, spielt aber inhaltlich keine Rolle. Nichts spielt eine Rolle, weil es beim Alles oder Nichts um gar nichts geht. Die Flasche, ach ja, das ACID, die hat am Schluß Sasha, aber er schnüffelt nur dran und atmet hinein.
Als Zuschauer ist man bedrückt, weil einer solchen Jugend nicht zu helfen ist und man große Mühe hat, diesen Film auf die Realität Rußlands zu beziehen, sich dann aber sagt, daß man die US-Amerikaner auch nicht für den Krieg der Sterne oder Twilight verantwortlich macht.
Foto:
© Verleih
Info:
ACID
ein Film von Alexander Gorchilin
RU 2018, 98 min., russische OF mit deutschen UT
Regie: Alexander Gorchilin
Buch: Valery Pecheykin
Kamera : Kseniya Sereda
Schnitt: Vadim Krasnitskiy
Produzenten: Sabina Eremeeva, Natella Krapivina
Produktion: Studio Slon, Trueman Pictures
Besetzung: Filipp Avdeev (Sasha), Alexander Kuznetsov (Pete), Arina Shevtsova (Karina), Savva Saveliev (Vasilisk), Alexandra Rebenok (Sashas Mutter), Roza Khayrullina (Sashas Großmutter), Dmitriy Kulichkov (Karinas Stiefvater), Elena Morozova (Petes Mutter), Aleksey Agranovich (Petes Vater), Pyotr Skvortsov (Ivan)
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