Petra Lüschow
Berlin (Weltexpresso) – Ich habe die Geschichte als Ensemble mit einer Mittelpunktsfigur angelegt. Die Angst vor Freiheit bewegt Figuren wie Inge, Helmut, Karin Teichert, Isabel oder Grimm. Es gibt aber auch Figuren wie Erdmut oder Hans-Erich, die diese Entwicklung schon hinter sich zu haben scheinen. Ursula ist das Mädchen dieser Zeit, sie ist begabt, klug und neugierig, aber auch gefangen. Dass sie sich entwickelt wie sie sich entwickelt, ist auch Zufall.
Die Bundesrepublik der 80er Jahre war trotz der Alternativbewegung eine konservative Zeit, in der die 68er-Bewegung mit ihren Konzepten von Liebe und Selbstbefreiung langsam in die Provinz durchsickerte.
Ich bin immer wieder erstaunt, wie viele Leute die 80er verklären, einfach weil es ihre Jugend war, und weil sie die Coolness von Talking Heads und The Cure, die sie damals sehnsüchtig hörten, mit dem verwechseln, was die Gesellschaft untergründig bewegte.
Ich bin mit den konservativen Strukturen dieser Zeit genauso vertraut wie mit der Alternativbewegung. Meine Eltern hatten einen großen einsamen Hof nicht unweit des Wendlands, und als beschlossen wurde, dass in Gorleben der Atommüll gelagert wurde, gehörten sie mit zu den Gegnern. Diese Generation der Kriegskinder war hin- und hergerissen zwischen der Loyalität einer autoritären, hart geprüften Elterngeneration gegenüber und dem Aufbruch der 68er. Viele Mütter aus der Kriegskindergeneration blieben in der traditionellen Rolle der Hausfrau und Mutter gefangen. Man sollte nicht vergessen, wie postfaschistisch und restaurativ das Frauenbild der 50er und frühen 60er war, und wie weit das auch noch in die 80er ausstrahlte. Und dann kamen die Kinder der 60er und 70er Jahre, sehnsüchtig und fordernd.
Als mit der Friedens- und Antiatomkraftbewegung die Alternativen aufs Land kamen, wurde es in meinem Leben richtig aufregend, und als jüngstes Kind hatte ich ein paar Freiheiten. Meine Politgruppe demonstrierte in Gorleben, wir machten gewaltfreies Training, sammelten für die Sandinistas in Nicaragua und veranstalteten in unserem kleinen Ort Friedensmärsche gegen Aufrüstung. Am Straßenrand stand manchmal ein alter Mann, er fotografierte uns und schrie, die Nazis hätten vergessen uns zu vergasen. Auch das kann man sich nicht oft genug klarmachen. 1983 waren viele der überzeugten Nazis noch sehr lebendig, diese Leute waren um die fünfzig und älter. Die Nazis waren nie weg gewesen, und ihre Nachhut stand auch schon in den Startlöchern. Mein erster Zeitungsartikel als Jugendliche, das muss 1982 gewesen sein, richtete sich gegen Neonazis an unserer Schule. Schon damals gab es die Stimmen, jetzt müsse endlich mal Schluss sein mit dem Gerede über Schuld, und ein Mitschüler hatte einen Aufkleber auf den Mercedes seines Vaters geklebt, der Deutschland in den Grenzen von 1938 zeigte.
Ansonsten waren die Meisten unpolitisch.
Ich erinnere mich, dass ich voller Begeisterung Michael Verhoevens Filme sah, ich las Bücher über Widerstand, alles noch recht pathetisch und selbstgerecht, aber na gut, es war ein Anfang. Meine Mutter fuhr mit uns und den französischen Austauschschülern nach Bergen Belsen, weil sie fand, die jungen Leute müssten erfahren, was hier geschehen sei. Trotzdem gab es auch in meiner Familie Schweigen, immer wieder Schweigen.
Das ist eine psychische Dynamik im menschlichen Verhalten, auch im Miteinander, die ich für unterschätzt halte. Menschen können über Dinge reden und sie doch wieder verdrängen, das Bewusstsein ist fluid.
Die Alternativbewegung, die den Geist der 68er atmete, schien genau das zu bringen, wonach ich mich sehnte: Freiheit, Reden über alles: Politik, Familie, Liebe. Aber ich realisierte bald, dass auch das Reden nicht unbedingt bedeutet, dass die Verdrängung nicht zurückkommt. Zudem fallen viele Themen einfach wieder unter den Tisch, das betraf etwa die Geschlechterverhältnisse. Feminismus war in den 80ern, als ich Jugendliche war, bereits ein Schimpfwort, der Backlash hatte längst begonnen, Reagan, Thatcher, Kohl begannen schon zu wirken, da lebten wir noch fröhlich mit der Illusion endlich befreit zu sein.
Zudem waren die meisten der Alternativen genauso konfliktunfähig wie unsere Eltern, sie kamen aus den gleichen konservativen Elternhäusern. So wurde für viele die Befreiung zunächst wie ein selbstgesetztes Diktum. Für mich war diese Bewegung emanzipatorisch und erkenntnisreich zugleich, die Projekte der 80er setzten die Prozesse der 68er fort. Auf der anderen Seite reagierten viele Alternative auch enttäuscht, als ihre Utopien nicht sofort eintraten. Entwicklung braucht Dialektik, Prozesse sind mühsam, nicht alle hatten Lust und Geduld, da mitzumachen.
Hier setzt meine Geschichte an, sie erzählt über das Politische im Privaten und über die Mechanismen, die uns gefangen halten. Wir sind mehr als unsere Sehnsüchte und Behauptungen. Die Figuren sehnen sich und suchen Befreiung, doch ihre Prägungen und Ängste sind oft unbewusst, sie selbst wissen oft nicht, wer sie wirklich sind, was sie wollen und was sie antreibt. Menschliche Schwächen aber erzählen sich besser mit Leichtigkeit, Humor macht das erträglicher.
Foto:
© Verleih
Info:
Produktion . Kordes &Kordes
Buch und Regie . Petra Lüschow
Deutschland 2018
Länge . 97 Minuten
Darsteller
Anna Florkowski
Florian Stetter
Christina Große
Thorsten Merten
Britta Hammelstein
Leon Ulrich
Hermann Beyer
Barbara Phillip
Zoe Moore
Oskar Boekelmann
u.a.
Kamera Jutta Pohlmann
Licht . Martin Bourgund
Szenenbild . Fabienne Niedlich, Eva Maria Röth
Kostümbild .
Sandra Meurer
Abdruck aus dem Presseheft
Maske Irina Schwarz
Abdruck aus dem Presseheft
Maske Irina Schwarz