Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 12. September 2019, Teil 5
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – In deren Haut möchte man nicht stecken. Weder in der von Heli (Jördis Triebel), die jahrelang ihr jüngere, geistig behinderte Schwester Ginnie (Lilith Stangenberg) im Elternhaus versorgte, noch in Ginnies, die ins Heim soll, weil Heli auch noch mal leben will und auch nicht in der Haut der drei Brüder, die nach Hause gekommen sind, um von Ginnie Abschied zu nehmen.
Die Brüder sind der 32jährige Tommy (Hanno Koffler), Bruno (Florian Stetter) mit 30 Jahren und Frederick (Kai Scheve), der Älteste, der schon 42 Jahre alt ist. Aller drei sind als Männer so unterschiedlich, wie man es sich nur so vorstellen kann. Auch ihre Berufe. Frederick ist wie die Familientradition es will, ein Musiker im Klassikbereich - und erfolgreich dazu. Das gelang nur, weil er sich ein Leben lang darauf konzentrierte und mit Diszipin übte. Tommy dagegen ist Jazzmusiker. Aha, der ist schon lockerer. Stimmt. Wenn beide Musik machen, klingt die Harmonie durch die Räume des Hauses. Das ist schön anzusehen und anzuhören auch. Eine kurzfristige Idylle. Denn man spürt, wie die Lockerheit von Tommy gespielt ist. Gegenüber dem um zehn Jahre älteren Bruder fühlt er sich als Versager. Davon versucht sich der Dritte, Bruno, freizumachen. Er führt sich eher als Einzelkind auf und ist derjenige, der am stärksten Stimmungsschwankungen unterworfen ist.
Von den drei Brüdern hat auch jeder eine andere Beziehung zu Ginnie (26), auch zu Heli (40), auf die sich alle verlassen, weil sie als ältere Schwester immer ihre fürsorgliche Rolle erfüllt hatte. Und deshalb genug hat. Wir sind dabei, wie das wochenendliche Zusammentreffen eher mit netten Worten beginnt, ehe dann im Verlauf die alten Positionen der Geschwister untereinander aufbrechen und wiederholt werden. Eine Familienaufstellung wäre nötig, denn so verläuft das Wochenende wie gehabt. Und wir lernen die drei ins eigene Selbst verliebten, bzw. egozentrischen Kerle so richtig kennen. Die vielen Szenen, in denen das aufbricht, sind gut gemacht.
Und was ist mit Ginnie? Das bleibt die große Frage. Sie ist wirklich einerseits geistig zurückgeblieben, andererseits nimmt sie das Verhalten ihr gegenüber und untereinander seismographisch auf und reagiert durch Verhalten, abweisend, übertrieben zugewandt oder sie flieht. So erleben wir sie – wie die anderen auch – als überzartes Mädchen, weniger als junge Frau. Sie wirkt dann ‚normal‘, wird aber unversehens rabiat und mit eisernem Willen gesegnet zu einer durchsetzungsfähigen Frau mit Furor. Und sie wird dann die einzige sein, die in diesem Film ihre Fleischeslust auch auslebt. Viel auf einmal, aber in jeder der Handlungszweige glaubwürdig. Insbesondere, wenn man sie als Antwort auf die Geschwister sieht, die erst nett, dann eben sich gegenseitig die Gemeinheiten nur so herauskitzeln.
Wir sind in einem gemütlichen Haus am Rande Berlins, geradezu idyllisch und ruhig scheint es hier zu sein. Von der Hausherrin Heli erfahren wir, daß sie Künstlerin ist. Nur ihr kommen wir im Verlauf des Films in ihrem Dilemma nahe, das daher rührt, daß sie entschieden hat, ihre Schwester Ginnie in ein Heim zu geben. Ihr schlechtes Gewissen endet nur an der Unverfrorenheit der Brüder, die das für selbstverständlich hielten und halten. So gibt es auch immer wieder Szenen, die deutlich machen, daß die beiden Schwestern eine befriedigende Binnenbeziehung haben, während die Brüder ihr eigenes Leben woanders immer so exzessiv auslebten, daß für Zuhause und für die Geschwister weder Raum, noch Zeit, noch ernsthaft Interesse blieb.
Das plötzliche Zusammensein am alten Familienort ändert dies, denn mit den Räumen kommen auch die seelischen Verfaßtheiten von damals wieder hoch. Eigentlich braucht in diesem Film gar nicht viel zu passieren. Von außen. Denn allein die Erinnerung der fünf Geschwister – viel für die heutige Zeit – läßt ja die Gegenwart durch die Vergangenheit, das Schöne und das Schreckliche, überlagern. Wie absurd, ja skurril der Umgang mit der behinderten Schwester bei den Brüdern ausartet, ja auch übergriffig, muß man anschauen, es fällt einem schwer, darüber ein moralisches Urteil zu fällen, einfach, weil wir persönlich nicht wissen, wie man sich gegenüber einer Schwester, die man früher schwachsinnig genannt hätte, verhält. So auf jeden Fall nicht, das wird einem klar. Und von daher ist der Titel IDIOTEN DER FAMILIE stimmig, Er erinnert an ein tiefgehendes Buch der 70er Jahre, das WER IST AUS HOLZ hieß, von einem holländischen Psychiater Jan Foundraine , das uns eindeutig aufwies, daß Psychosen für Betroffene meist ein Ausweg sind, weil sie ihre Umwelt als Holz empfinden, nicht ertragen und hölzern reagieren.
An dieses Hölzerne mußte ich bei der Darstellung der Ginnie durch Lilith Stangenberg denken, die mir zudem den Begriff ‚schwachsinnig‘ so nahebrachte. Ist der Begriff heute verpönt?, fragte ich mich als erstes. Dabei ist er inhaltsreich. Schwach von Sinnen. Aber stimmt das überhaupt? Nein, wir haben ja fünf Sinne und Ginnies andere Sinne, einschließlich des Sexualtriebs, sind ja ausgeprägt. Man nimmt also auch nach dem Film, der so deutlich wie dezent von einer Welt erzählt, der wir uns fernhalten, noch eine Menge an Fragen an sich selber mit.
Foto:
v.l.n.r. Kai Scheve (Frederick), Hanno Koffler (Tommy), Lilith Stangenberg (Ginnie), Jördis Triebel (Heli), Florian Stetter (Bruno)
© Verleih
Info:
DARSTELLER
Ginnie LILITH STANGENBERG
Heli JÖRDIS TRIEBEL
Tommy HANNO KOFFLER
Bruno FLORIAN STETTER
Frederick KAI SCHEVE
STAB
Regisseur, Drehbuch, Produzent MICHAEL KLIER
Producer ANNE-KATHRIN SEEMANN
Redaktion rbb/ARTE DAGMAR MIELKE
Redaktion rbb COOKY ZIESCHE