Bildschirmfoto 2019 10 12 um 03.44.01Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 10. Oktober 2019, Teil 21

Redaktion

Paris (Weltexpresso) - Wie sind Sie zu den „Unsichtbaren“ gekommen?

Ich habe Louis-Julien Petit schon vor über 10 Jahren kenngelernt, während eines Drehs, bei dem er Regieassistent war. Es hat sofort gepasst, in professioneller Hinsicht und in Bezug auf unsere Überzeugungen. Ich war dann bei den ersten Filmen von Louis-Julien dabei, „Discount“ und „Carole Matthieu“. Das waren Filme, nach denen ich gesucht hatte, in inhaltlicher und formaler Hinsicht. Als mich Louis-Julien anrief, um mir zu sagen, das er einen Film über obdachlose Frauen machen würde, schaute ich mir das an und war von der Idee sofort überzeugt.


In „Der Glanz der Unsichtbaren“ spielen obdachlose Frauen an der Seite von „professionellen“ Schauspielerinnen. Wie haben Sie auf diese Idee reagiert?

Ich fand sie großartig. Für die Besetzung der Obdachlosen-Rollen haben nur Frauen gepasst, die die Straße wirklich kennen. Sonst hätten wir nur unglaubwürdigen Mist voller Klischees und Übertreibungen abgeliefert. Ich komme ursprünglich vom Straßentheater, wo wir oft mit Leuten ohne Schauspielerfahrung gearbeitet haben, mit Improvisationen, mit authentischen, berührenden Darstellungen. Wenn die Regie im Umgang mit den Schauspielerinnen und Schauspielern gut ist, funktioniert das auch im Film. Bei einem Set, wo unerfahrene auf erfahrene Schauspielerinnen und Schauspieler treffen, zählt für mich nur, dass alle gleichbehandelt werden – und bei Louis-Julien wusste ich, dass es da nichts zu befürchten gibt. Und er hat es, wie immer, richtig angestellt. Wir trafen uns alle vor dem Dreh und wussten, dass es hinhauen würde.


Was hat Sie an diesen Frauen am meisten beeindruckt?

Ihre Widerstandsfähigkeit: Trotz allem, was ihnen widerfahren ist, kamen diese Frauen mit einem unglaublichen Selbstbewusstsein zum Set. Es gibt im Leben nichts, was mich mehr beeindruckt, als Menschen, denen es gelingt weiterzumachen, obwohl ihnen schlimme Dinge widerfahren sind. Darauf mussten wir in der Arbeit achten – auf die Grenzen der Frauen, die ihre Geschichte erzählen sollten. Louis-Juliens Fähigkeit zum Zuhören war dabei essentiell.


Besteht bei einer solchen Herangehensweise die Gefahr, die Kontrolle über das eigene Spiel zu verlieren?

Ich habe bei der Arbeit nie einen Unterschied zwischen mir und den anderen Frauen gesehen. Es war nicht so, dass sie auf der einen und wir, „die Profi s“, auf der anderen Seite gewesen wären. Auch wenn es für uns sicherlich eine unterschiedliche Erfahrung war: letzten Endes saßen wir alle im gleichen Boot. Und jede von uns kam irgendwann an einen Punkt, wo wir dachten, es geht nicht mehr weiter, wo wir an unsere Grenzen kamen. Ich bin es gewohnt, eine Szene „nackt“ zu drehen, wenn es die Rolle erfordert. Aber bei diesem Dreh war manches anders, ich habe manchmal geweint und war mit sehr persönlichen Dingen konfrontiert. Diese „Zusammenbrüche“ wurden allerdings immer gut aufgefangen, vor allem dank der gründlichen Vorbereitung und der Aufmerksamkeit von Louis-Julien.


Es ist Ihr dritter Film mit Louis-Julien Petit. Was schätzen Sie an seiner Arbeit?

Louis-Julien ist sehr „menschlich“. Er glaubt nicht an vorgegebene Hierarchien unter den Beteiligten. Er wählt das Team, die Besetzung und die technische Crew sorgfältig aus und kennt ihre Grenzen und Persönlichkeiten. Beim Dreh achtet er auf alles: Stimmen, Gesten, Rhythmen und Stillephasen. Er hält nichts von Machtgefällen. Wir können Vorschläge machen, und obwohl er weiß, was er will, kann er seine Meinung ändern. So etwas ist in der Filmindustrie eher selten ... (lacht)


In „Der Glanz der Unsichtbaren“ geraten wir immer wieder vom Weinen ins Lachen ...

Wir könnten über das Leben dieser Frauen leicht denken, es sei einfach trostlos. Das stimmt aber nicht. Für Menschen, die schwierige Zeiten erleben, kann Humor eine wirkungsvolle Waffe sein, eine Hilfe, um widerstandsfähiger zu werden. Der Humor bringt sie zusammen. Das ist, glaube ich, der Grund, warum Louis-Julien wollte, dass der Film im weiteren und besten Sinn eine Komödie wird. Nach dem Film von Claire Lajeunie hätte er nicht noch eine Dokumentation machen können. Ein Melodram wäre Gefahr gelaufen, sich des Elends zu bedienen, um falsche Emotionen zu wecken. Der Film behandelt ein heikles Thema in unserer heutigen Gesellschaft, das schließt eine allzu leichte, oberfl ächliche oder romantische Herangehensweise aus. Der Grund, warum sich Louis-Julien für die Tonart der Komödie entschieden hat, liegt darin, den Humor im Leben dieser Frauen abzubilden und ihnen auf Augenhöhe zu begegnen.


Kann ein Film wie „Der Glanz der Unsichtbaren“ etwas bewirken? 

Ich weiß nicht ... vielleicht verstehen nach diesem Film mehr Leute, dass Obdachlosigkeit jeden treffen kann. Ganz konkret hat der Film, glaube ich, den beteiligten Frauen einen anderen Blick auf ihr Leben ermöglicht. Adolpha Van Meerhaeghe zum Beispiel, die die Rolle der Chantal spielt, und ich arbeiten weiter zusammen. Wir machen gemeinsam Theater und arbeiten an anderen Projekten. Das ist etwas, was der Film bewirkt hat.



CORINNE MASIERO (Manu)
Geboren 1964. Corinne Masiero begann erst im Alter von 28 Jahren mit der Karriere als Schauspielerin, zunächst am Theater, erste Filmrollen in GERMINAL (1993, R: Claude Berri) und LA VIE RÊVÉE DES ANGES (1998, R: Érick Zonca). Inzwischen umfasst ihre Filmografi e mehr als Filme, u.a. À L’ORIGINE (2009, R: Xavier Giannoli), PERSÉCUTION (2009, R: Patrice Chéreau), DER GESCHMACK VON ROST UND KNOCHEN (2012, R: Jacques Audiard), OMBLINE (2012, R: Stéphane Cazes), L’HERMINE (2015, R: Christian Vincent), SOUFFLER PLUS FORT QUE LA MER (2016, R: Marine Place), CAROLE MATTHIEU (2016, R: Louis-Julien Petit), LA CONSOLATION (2017, R: Cyril Mennegun) und LE VENT DU NORD (2017, R: Walid Mattar). Für LOUISE WIMMER (2011, R: Cyril Mennegun) wurde sie zum César und Lumiére Award nominiert und auf dem Zürich Film Festival als beste Schauspielerin ausgezeichnet.