Bildschirmfoto 2019 10 12 um 03.47.17Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 10. Oktober 2019, Teil 22

Redaktion

Paris (Weltexpresso) - Wie sind Sie zu den „Unsichtbaren“ gekommen?



Der Caster David Betrand, den ich von der Arbeit an Roschdy Zems „Monsieur Chocolat“ kannte, erzählte sehr ausführlich und begeistert von Louis-Julien Petit und seiner Arbeit. Wenn ich mich für ein Projekt entscheide, zählt für mich vor allem die Regie, noch bevor ich mich mit einer bestimmten Rolle oder dem Thema eines Films beschäftige. Ich kannte Louis-Julien nicht persönlich, aber ich hatte seinen Film „Discount“ gesehen, ich mochte seinen Blick auf die Welt. Ich las das Drehbuch und war sehr angetan. Schließlich traf ich Louis-Julien und war endgültig verzaubert.


Was dachten Sie über das Thema des Films?

Es hat mich natürlich fasziniert und berührt. Ich laufe ja nicht mit geschlossenen Augen durch die Welt, ich sehe jeden Tag obdachlose Frauen, und natürlich macht mich ihre Situation wütend und besorgt. Aber ich habe diesen Film nicht aus Aktivismus gemacht. Wenn ich kämpfe, dann für das Kino und den Film. Ich mache Filme, weil es mir Freude macht, die Haltung einer Regisseurin oder eines Regisseurs zu teilen und an einer glaubwürdigen Erzählung teilzuhaben – und natürlich, weil mir meine Arbeit als Schauspielerin Freude macht. Nachdem wir Pierre Schoellers „Ein Volk und sein König“ abgedreht hatten, hatte ich auch nicht das Bedürfnis, über die französische Revolution zu reden. Ich sehe mich in meiner Arbeit nicht als Sprachrohr für Themen.


Für diesen Film spielten Sie an der Seite von Frauen ohne Schauspielerfahrung. War das schwierig für Sie?

Überhaupt nicht. Vor dem Dreh hatte sich Louis-Julien die Zeit genommen, alle Schauspielerinnen kennenzulernen, „Profi s“ und Anfängerinnen. Er hat dabei allen die gleiche Aufmerksamkeit geschenkt, ohne Unterschiede zu machen. Louis-Julien ist ein besonderer Regisseur. Er lenkt die Leute und weiß dabei, wer sie sind und was sie von ihm als Regisseur erwarten. Bei diesem Film war das eine Riesenaufgabe. Die technische Crew nicht mitgezählt, waren oft 15, 20, 30 Schauspielerinnen am Set. Das schien ihm aber nichts auszumachen. Er sprach alle von uns auf eigene Weise an, war zu allen herzlich und behielt dabei immer die Ruhe. Sogar bei den sehr langen Takes hat er uns nie allein gelassen. Er hat ständig mit uns kommuniziert und uns durch den Take geführt. So, wie wir den Film gedreht haben, mussten wir häufi g improvisieren. Wir hatten das Drehbuch und die Dialoge als Richtschnur, aber dann verzichtete Louis-Julien oft darauf. Ich habe immer etwas Bammel vor dem Improvisieren, das ist nicht meine größte Stärke. Doch Louis-Julien hat mich in seiner seiner besonderen, sehr leidenschaftlichen und liebevollen Art mitgerissen. Er hat uns alle mitgerissen.


In dem Film sind viele Erfahrungen aus dem wirklichen Leben eingeflossen. Waren manche Szenen besonders?

Ja, vor allem die, die Louis-Julien die „Kunsttherapie“-Szene nannte. Louis-Julien hat das mit zwei Kameras in nur einem einzigen Take gefi lmt. Ich glaube, er hat 40 Minuten oder länger gedauert. Das war ein überwältigender Moment. Es war ergreifend, den Frauen zuzuhören, wie sie ungefi ltert von ihren Erfahrungen, ihren Wünschen, ihrem Zorn und ihrer Reue erzählten. Der herzzerreißendste Moment in dieser langen Szene kam, als eine Frau zu dem kleinen Mädchen sprach, das sie früher einmal gewesen war, und es um Vergebung für die Person bat, zu der sie geworden war. Am Set waren wir alle emotional überwältigt, es hat mich viel Energie gekostet, mich zu sammeln und weiter zu drehen.


Wie sind Sie an die Rolle der Hélène herangegangen?

Ich habe versucht, die Figur an mich heranzuführen. LouisJulien hat mir die Abläufe erklärt und mich angeleitet. Er kennt die Welt, die er fi lmt, wirklich von innen. Mir war klar, er will, dass Hélènes Unbeholfenheit und Exzentrik amüsant ist, ihre Art, sich in ihrem Wohlwollen und ihren positiven Empfi ndungen zu verheddern. Ich kann nicht für Louis-Julien sprechen, aber ich denke, er glaubt genauso wie ich, dass jeder Mensch die Fähigkeit zur Freude und Selbstironie hat. Selbst in schlimmsten Zeiten und Situationen kann der Lebenswille siegen. Das ist es, was wir beide wollen.


Was hat Sie am meisten überrascht?

Ich glaube, am meisten hat mich der Zusammenhalt zwischen den sogenannten Profi s und den Frauen ohne Schauspielerfahrung überrascht. Es gab im Beisammensein der Frauen eine sehr besondere Art der Leichtigkeit, eine Heiterkeit. Unsere Gespräche, Solidarität, Anfälle von Bescheidenheit, manchmal auch die vollkommene Abwesenheit jeglicher Scheu... das hat sich alles sehr besonders angefühlt. Wir haben aufeinander aufgepasst und eine starke Verbindung zwischen uns entwickelt, ohne dass Unterschiede in der sozialen, berufl ichen oder fi nanziellen Situation eine Rolle gespielt hätten. Aber es war uns immer klar, dass wir nicht alle die gleichen Möglichkeiten haben und dass wir unterschiedliche Leben führen. Was uns verbunden hat, war dieses Projekt, die Zeit, die wir gemeinsam in eiskalten Gebäuden im winterlichen Tourcoing verbracht haben. Und die Herzlichkeit der Crew, Louis-Juliens liebevoller Blick... Der Zusammenhalt in der Gruppe hat mich wirklich berührt. Diese Art von Osmose ist selten.



NOÉMIE LVOVSKY (Hélène)
Geboren 1964, Studium an der Filmuniversität LA FÉMIS. Noémie Lvovsky ist Regisseurin, Autorin und Schauspielerin. 1994 legte sie mit OUBLIE-MOI ihren ersten Spielfi lm als Regisseurin vor, es folgten u.a. LA VIE NE ME FAIT PAS PEUR (1999, u.a. Silberner Leopard in Locarno), LES SENTIMENTS (2003, u.a. Prix Louis Delluc und nominiert zum César: Bester Film), CAMILLE REDOUBLE (2012, Piazza Grande Award in Locarno, 13 Nominierungen zum César, u.a. Bester Film und Beste Regie) und DEMAIN ET TOUS LES AUTRES JOURS (2017). Als Autorin arbeitete sie u.a. mit Yolande Zauberman (CLUBBED TO DEATH, 1996) und Valeria Bruni-Tedeschi (IL EST PLUS FACILE POUR UN CHAMEAU, 2003; ACTRICES, 2007; UN CHÂTEAU EN ITALIE, 2013). Zu ihren zahlreichen Filmen als Schauspielerin zählen ROI ET REINE (2004, R: Arnaud Desplechin), LE SKYLAB (2011, R: Julie Delpy), LES ADIEUX À LA REINE (2012, R: Benoît Jacquot) und MONSIEUR CHOCOLAT (2016, R: Roschdy Zem). Noémie Lvovsky wurde als Schauspielerin sieben Mal zum César als Beste Schauspielerin in einer Nebenrolle nominiert, u.a. für MA FEMME EST UNE ACTRICE (2002, R: Yvan Attal), BACKSTAGE (2005, R: Emmanuelle Bercot), ACTRICES (2007), LES BEAUX GOSSES (2009, R: Riad Sattouf), L’APOLLONIDE (2012, R: Bertrand Bonello) und LA BELLE SAISON (2016)

Foto:
© Verleih

Info:
Darsteller
Audrey           AUDREY LAMY
Manu             CORINNE MASIERO
Hélène           NOÉMIE LVOVSKY
Angélique       DÉBORAH LUKUMUENA
Chantal          ADOLPHA VAN MEERHAEGHE