Florian Aigner
Berlin (Weltexpresso) – Diesen Film will ich seit dreißig Jahren drehen. Ich bin in West-Berlin aufgewachsen und war vierzehn Jahre alt, als die Mauer fiel. Nie wieder habe ich solche Euphorie erlebt! Ich staunte über die Erwachsenen, die wie kleine Kinder weinten. Alle schwärmten von der friedlichen Revolution und entwarfen neue Gesellschaftsformen. Ich lief über den Mauerstreifen, kletterte auf Wachtürme und sammelte Mauersteine. Die Welt war ein großer Abenteuerspielplatz. Ein halbes Jahr später war die Euphorie verflogen.
Im Juni 1990 hörte ich zum ersten Mal die Ausdrücke „Besserwessi“ und „Jammerossi“. Plötzlich redeten die Erwachsenen nicht mehr über neue Gesellschaftsformen, sondern stritten über Entschädigungen und Solidarzuschlag. Innerhalb weniger Monate war die Stimmung gekippt. Ich habe mich immer gefragt, wie das passieren konnte. Wieso wurde dieser Glücksfall der Geschichte verschenkt? Liegt darin die Ursache, dass Deutschland heute noch gespalten ist?
Meine lange Drehbuchrecherche ergab einen Kardinalfehler der deutschen Einheit. Im Juni 1990 unterschrieben die Bundesrepublik und die DDR folgende Erklärung: „Enteignetes Grundvermögen wird grundsätzlich [...] den ehemalige Eigentümern oder ihren Erben zurückgegeben.“ Mit dieser Regelung sollte Westdeutschen ermöglicht werden, ihre enteigneten Grundstücke und Häuser zurückzubekommen. Daraufhin wurden die Ostdeutschen mit Klagen und Prozessen überschwemmt. Bis zum Stichtag 1992 waren über 2 Millionen Streitfälle gemeldet worden. In der ostdeutschen Gemeinde Kleinmachnow, südlich von West-Berlin, wo mein Film spielt, waren mehr als die Hälfte aller Einwohner von westdeutschen Restitutionsforderungen betroffen. Aus heutiger Sicht kann man konstatieren: Die Regelung „Rückgabe vor Entschädigung“ vergiftete von Anfang an das Zusammenwachsen beider deutschen Staaten.
Vor diesem historischen Hintergrund erzähle ich die Geschichte einer ersten Liebe. Es ist Sommer, im Radio läuft der Hit „I Promised Myself“ und Katja verliebt sich in Thorben. Dass er der Sohn der verfeindeten Familie ist, macht die Liebe nur noch spannender für sie. Romeo und Julia im Juni 1990. Aber Katja muss erkennen, dass Liebe nicht alles heilen kann. Die Kinder haben die Vorurteile ihrer Eltern verinnerlicht, die Liebe droht zu scheitern. Als Thorbens Welt zerbröckelt, kommt es zum Unglück. Am Ende stehen sich Katja und Thorben ratlos gegenüber. Obwohl sie dieselbe Sprache sprechen und nur wenige Kilometer voneinander aufgewachsen sind, verstehen sie einander nicht.
Als West-Berliner machte ich mich auf die Suche nach der DDR. Neben vielen Gesprächen mit Zeitzeugen waren die DEFA-Filme eine große Inspiration. Dieses Kinoerbe ist ein kultureller Schatz! Dokumentarfilme wie „Berlin – Prenzlauer Berg“ von Petra Tschörtner, „Winter adé“ von Heike Misselwitz und „Leipzig im Herbst“ und „Letztes Jahr Titanic“ von Andreas Voigt waren eine Quelle für Figuren und Szenen.
Visuell haben der Kameramann Armin Dierolf und ich uns an vielen DEFA-Spielfilmen orientiert. Besonders der wunderbare Hermann Zschoche war mit seinen Jugendfilmen „Das Mädchen aus dem Fahrstuhl“, „Sieben Sommersprossen“ und „Grüne Hochzeit“ ein Vorbild. „Coming Out“ von Heiner Carow schenkte uns Ausstattungsideen für Ostwohnungen. „Die Architekten“ von Peter Kahane vermittelte uns die Melancholie am Ende der DDR. Und von Lothar Warneke („Einer trage des Anderen Last“, „Die Beunruhigung“) und von Siegfried Kühn („Zeit der Störche“) lernten wir, wie man eine Plansequenz dreht, die nicht der Kamera, sondern dem Schauspieler dient. Für mich sind die DEFA-Filme eine Schule im uneitlen Filmemachen, das niemals protzt, sondern sich immer den Figuren unterordnet. IM NIEMANDSLAND entwirft ein deutsch-deutsches Panorama vom Juni 1990. Jede Figur repräsentiert eine gesellschaftliche Strömung. Während Thorbens Mutter stur am Sozialismus festhält, ist Thorbens Vater zu Kompromissen bereit. Während Katjas Vater unversöhnlich Rache fordert, zieht sich Katjas Mutter ins Private zurück. Und Thorbens Handballtrainer, der sich als Bürgerrechtler ausgibt, wird als IM der Stasi enttarnt.
Soviel ist im Juni 1990 passiert! Zwischen Mauerabriss, 1. Staatsvertrag und Währungsunion vergingen nur wenige Wochen. Die damals in großer Hektik getroffenen politischen Entscheidungen beschäftigen uns noch heute. Für mich bezeichnet der Titel IM NIEMANDSLAND nicht nur den Grenzstreifen zwischen beiden deutschen Staaten, auf dem sich das Liebespaar heimlich trifft. Der Titel beschreibt auch das zeitliche Niemandsland, in dem sich Katja und Thorben befinden. Kein Kind mehr, noch kein Erwachsener... Hat das vereinte Deutschland seine Pubertät überstanden oder steckt es noch mitten drin? Ich finde, das Genre „Coming-of-Age“ passt zu einem vereinten Land, das noch keine gemeinsame Identität gefunden hat. Der Prozess des Zusammenwachsens ist nicht abgeschlossen. Die deutsche Wunde brennt noch.
FORTSETZUNG FOLGT
Foto:
©
Info:
Darsteller
Katja Emilie Neumeister
Thorben Ludwig Simon
Alexander Behrendt Andreas Döhler
Heidi Behrendt Lisa Hagmeister
Erwin Paulsen Uwe Preuss
Beatrice Paulsen Judith Engel
Andy Michelangelo Fortuzzi
Regie Buch Schnitt: Florian Aigner
Abdruck aus dem Presseheft
Meine lange Drehbuchrecherche ergab einen Kardinalfehler der deutschen Einheit. Im Juni 1990 unterschrieben die Bundesrepublik und die DDR folgende Erklärung: „Enteignetes Grundvermögen wird grundsätzlich [...] den ehemalige Eigentümern oder ihren Erben zurückgegeben.“ Mit dieser Regelung sollte Westdeutschen ermöglicht werden, ihre enteigneten Grundstücke und Häuser zurückzubekommen. Daraufhin wurden die Ostdeutschen mit Klagen und Prozessen überschwemmt. Bis zum Stichtag 1992 waren über 2 Millionen Streitfälle gemeldet worden. In der ostdeutschen Gemeinde Kleinmachnow, südlich von West-Berlin, wo mein Film spielt, waren mehr als die Hälfte aller Einwohner von westdeutschen Restitutionsforderungen betroffen. Aus heutiger Sicht kann man konstatieren: Die Regelung „Rückgabe vor Entschädigung“ vergiftete von Anfang an das Zusammenwachsen beider deutschen Staaten.
Vor diesem historischen Hintergrund erzähle ich die Geschichte einer ersten Liebe. Es ist Sommer, im Radio läuft der Hit „I Promised Myself“ und Katja verliebt sich in Thorben. Dass er der Sohn der verfeindeten Familie ist, macht die Liebe nur noch spannender für sie. Romeo und Julia im Juni 1990. Aber Katja muss erkennen, dass Liebe nicht alles heilen kann. Die Kinder haben die Vorurteile ihrer Eltern verinnerlicht, die Liebe droht zu scheitern. Als Thorbens Welt zerbröckelt, kommt es zum Unglück. Am Ende stehen sich Katja und Thorben ratlos gegenüber. Obwohl sie dieselbe Sprache sprechen und nur wenige Kilometer voneinander aufgewachsen sind, verstehen sie einander nicht.
Als West-Berliner machte ich mich auf die Suche nach der DDR. Neben vielen Gesprächen mit Zeitzeugen waren die DEFA-Filme eine große Inspiration. Dieses Kinoerbe ist ein kultureller Schatz! Dokumentarfilme wie „Berlin – Prenzlauer Berg“ von Petra Tschörtner, „Winter adé“ von Heike Misselwitz und „Leipzig im Herbst“ und „Letztes Jahr Titanic“ von Andreas Voigt waren eine Quelle für Figuren und Szenen.
Visuell haben der Kameramann Armin Dierolf und ich uns an vielen DEFA-Spielfilmen orientiert. Besonders der wunderbare Hermann Zschoche war mit seinen Jugendfilmen „Das Mädchen aus dem Fahrstuhl“, „Sieben Sommersprossen“ und „Grüne Hochzeit“ ein Vorbild. „Coming Out“ von Heiner Carow schenkte uns Ausstattungsideen für Ostwohnungen. „Die Architekten“ von Peter Kahane vermittelte uns die Melancholie am Ende der DDR. Und von Lothar Warneke („Einer trage des Anderen Last“, „Die Beunruhigung“) und von Siegfried Kühn („Zeit der Störche“) lernten wir, wie man eine Plansequenz dreht, die nicht der Kamera, sondern dem Schauspieler dient. Für mich sind die DEFA-Filme eine Schule im uneitlen Filmemachen, das niemals protzt, sondern sich immer den Figuren unterordnet. IM NIEMANDSLAND entwirft ein deutsch-deutsches Panorama vom Juni 1990. Jede Figur repräsentiert eine gesellschaftliche Strömung. Während Thorbens Mutter stur am Sozialismus festhält, ist Thorbens Vater zu Kompromissen bereit. Während Katjas Vater unversöhnlich Rache fordert, zieht sich Katjas Mutter ins Private zurück. Und Thorbens Handballtrainer, der sich als Bürgerrechtler ausgibt, wird als IM der Stasi enttarnt.
Soviel ist im Juni 1990 passiert! Zwischen Mauerabriss, 1. Staatsvertrag und Währungsunion vergingen nur wenige Wochen. Die damals in großer Hektik getroffenen politischen Entscheidungen beschäftigen uns noch heute. Für mich bezeichnet der Titel IM NIEMANDSLAND nicht nur den Grenzstreifen zwischen beiden deutschen Staaten, auf dem sich das Liebespaar heimlich trifft. Der Titel beschreibt auch das zeitliche Niemandsland, in dem sich Katja und Thorben befinden. Kein Kind mehr, noch kein Erwachsener... Hat das vereinte Deutschland seine Pubertät überstanden oder steckt es noch mitten drin? Ich finde, das Genre „Coming-of-Age“ passt zu einem vereinten Land, das noch keine gemeinsame Identität gefunden hat. Der Prozess des Zusammenwachsens ist nicht abgeschlossen. Die deutsche Wunde brennt noch.
FORTSETZUNG FOLGT
Foto:
©
Info:
Darsteller
Katja Emilie Neumeister
Thorben Ludwig Simon
Alexander Behrendt Andreas Döhler
Heidi Behrendt Lisa Hagmeister
Erwin Paulsen Uwe Preuss
Beatrice Paulsen Judith Engel
Andy Michelangelo Fortuzzi
Regie Buch Schnitt: Florian Aigner
Abdruck aus dem Presseheft