Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 14. November 2019, Teil 5
Simon Jaquemet
Zürich (Weltexpresso) - „Dieser Film hat gar nichts mit mir zu tun!“ So beginne ich meistens, wenn ich mein Projekt präsentiere. Natürlich ist das gelogen. Ich sah vor einigen Jahren im Fernsehen eine triviale Dokumentation über einen Kriminalfall in Deutschland. Ein junger Mann hatte mutmaßlich seine Erbtante ermordet, um an ihr Geld zu kommen. Die Dokumentation konzentrierte sich auf die Verlobte und den Freundeskreis des Hauptverdächtigen. Der junge Mann stritt die Tat vehement ab und tatsächlich gab es erhebliche Ungereimtheiten bezüglich der Indizien, die seine Schuld beweisen sollten.
Die Verlobte und die Freunde des jungen Mannes glaubten felsenfest an seine Unschuld. Sie sammelten Geld, protestierten vor dem Gerichtsgebäude, engagierten Anwälte und Detektive. Es nützte alles nichts: Schließlich wurde der junge Mann des Mordes schuldig befunden und zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Urteil wurde auch in der zweiten Instanz bestätigt.
Mich ließ die Verlobte des Mannes nicht mehr los. Die Frau Mitte Zwanzig glaubte unbeirrbar an die Unschuld ihres Geliebten. Was wird mit dieser Frau geschehen? Wird sie fünfzehn oder sogar zwanzig Jahre auf ihren Verlobten warten? Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich wird sie ihn irgendwann vergessen und ein neues Leben beginnen. Aber was wird passieren, wenn ihr ehemaliger Verlobter entlassen wird und bei ihr vor der Tür steht?
Ich habe den Fernsehfilm kein zweites Mal angeschaut und bin dem realen Fall nicht weiter nachgegangen. Aber die Geschichte und vor allem die junge Frau tauchten über Jahre immer wieder in meinen Gedanken auf, ohne dass ich mir selber erklären konnte, wieso. Zu einem späteren Zeitpunkt, als ich schon erste Texte zu der Frau und ihrem vermeintlich unschuldig verurteilten Verlobten geschrieben hatte, hatte ich einen hyperrealistischen Traum: Eine Frau saß mit anderen Menschen in einer seltsamen religiösen Veranstaltung. Eine Art Seminar im kleinen Rahmen. Ein Priester schlenderte durch die Reihen und schien direkt auf die Frau zuzusteuern, die ihrerseits merkte, dass sie dem Priester aufgefallen war und versuchte, sich unsichtbar zu machen. Als der Mann vor ihr stand und ihr in die Augen schaute, verlor sie die Kontrolle über sich selbst, brach zusammen, erbrach und nässte sich ein. Dieser extreme Zusammenbruch hatte etwas Befreiendes. Ein über Jahre angestautes Problem schien an die Oberfläche zu kommen.
Was denn jetzt? Mir wurde plötzlich klar: Die Frau aus dem Traum ist die gleiche Figur, wie die Frau aus der Geschichte, die schon damals den Titel Der Unschuldige trug. Religion und Glaube mussten damit zu tun haben. Damit eröffnete sich mir eine weitere Ebene. Die Geschichte und das Projekt nahmen mich vollends gefangen und haben mich bis heute nicht losgelassen. Ich bin als Kind von 68er-Eltern abseits von jeglicher Religion aufgewachsen. Ich bin nicht getauft, habe wohl in meiner Kindheit und Jugend weniger als ein Dutzend Mal eine Kirche von innen gesehen und folgte der Ansicht meiner Eltern, dass Religion ein albernes Märchen sei. Bei uns kam zu Weihnachten nicht das Christkind, sondern der Weihnachtselefant.
Foto:
© Verleih
Info:
Darsteller
Judith Hofmann - Ruth
Naomi Scheiber - Naomi
Christian Kaiser - Hanspeter
Thomas Schüpbach - Andreas
Anna Tenta - Meike
Urs-Peter Wolters - Paul
Regie: Simon Jaquemet
Buch: Simon Jaquemet