Serie: Retrospektive auf Ulrich Seidl im Kino des Filmmuseums in Frankfurt am Main, Teil 1/4

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Für die einen ist Ulrich Seidl, der österreichische Filmregisseur, Drehbuchautor und Produzent, Jahrgang 1952, geradezu Kult, für andere erst eine bekanntere Filmfigur, seit er mit der Trilogie PARADIES innerhalb eines Jahres mit LIEBE in Cannes, mit GLAUBE in Venedig und mit HOFFNUNG bei der Berlinale 2013 gleich die drei großen europäischen Filmfestivals 'bediente'. Und dann gibt es welche, die weder ihn noch seine Filme leiden können.

 

Mit einem Wort, seit jeher ist Ulrich Seidl einer, der mit seinen Filmen, aber auch mit seinen Worten darüber, zu den Kritiken und zum Zustand des Kinos heutzutage polarisiert. Sagen wir es gleich. Wir mögen ihn als Regisseur, weil wir seine Filme für wahrhaftig und unter die Haut gehend halten. Wenigstens geht uns das so. Denn eigentlich sind wir erst durch die Trilogie so richtig aufmerksam auf ihn geworden, was auch damit zusammenhängt, daß er bisher auf Filmkunst-Festivals zu sehen war, in den einschlägigen Kinos auch, aber nicht in den großen Verleihkinos, was die Trilogie PARADIES nun geändert hat, die vor allem mit LIEBE Besucherzuschauer anzieht.

 

Es kam also zur rechten Zeit, daß das Kino des Filmmuseum Frankfurt im Mai 2013 eine Seidl-Retrospektive anbot: „Wie Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek in der Literatur verfolgt der 1952 in Wien geborene Ulrich Seidl seit mehr als 30 Jahren eine polemische und sehr persönliche Auseinandersetzung mit der Befindlichkeit seiner österreichischen Heimat.“ Es wird dann von einem 'veritablen Coup' gesprochen, wie und wo er die Teile von PARADIES uraufführte. „Diesen künstlerischen wie rezeptiven Höhepunkt in Seidl bisheriger Karriere würdigt unsere Retrospektive, die alle seine für das Kino produzierten, teilweise ausgesprochen selten zu sehenden Filme versammelt.

 

Leider – im Nachhinein leider – sind wir erst bei HUNDSTAGE, 2001, eingestiegen. Das war der erste Film, in dem Seidl neben Laiendarstellern auch professionelle Schauspieler beschäftigte. Versäumt haben wir die kürzeren Filme EINVIERZIG von 1980, DER BALL, 1982, BRÜDER, LASST UNS LUSTIG SEIN, 2006, sowie GOOD NEWS, 1990, sein erster Langfilm und genauso wie die bisherigen Filme Dokumentationen, die oft aus langen wortlosen Passagen bestehen. Mit MIT VERLUST IST ZU RECHNEN, 1992, beginnt die ganz spezifische Art, in der Seidl Dokumentar- mit Spielfilmelementen zu einem dennoch homogenen Film mischt. Es geht dabei um einen Witwer, der dicht vor der Grenze zur Tschechien mit einem Fernrohr eine Frau sucht.

 

TIERISCHE LIEBE, 1995, „handelt von Menschen aus Wien, die der zwischenmenschlichen Kommunikation überdrüssig geworden sind und darum Tiere zu Lebensgefährten, Bettgenossen und Ansprechpartnern ausgewählt haben. Obwohl Werner Herzog nach Betrachtung dieses Films bekannte: „noch nie im Kino so geradewegs in die Hölle geschaut' zu haben, ist Seidls Dokumentation alles andere als eine spekulative Grotestkenschau über ein tabuisiertes Thema. Sein Blick in die verschiedenen Wohnungen hält in neutral-ästhetischen Tableaus eine Zärtlichkeit fest, die in den meisten seiner nur mit Menschen besetzten Filme nicht existiert.“

 

MODELS, 1998 zeigt den Lebensalltag von Vivian, Lisa und Tanja, die selbst über ihr Leben und ihre Arbeit sprechen, so daß es sich um einen improvisierten Dokumentarfilm handelt. HUNDSTAGE schließlich, 2001 fertiggestellt und 121 Minuten lang, ist also Seidl erster offizieller Spielfilm und bewirkt, daß man streckenweise mit offenem Mund zuschaut und dem lauscht, was die Protagonisten von sich geben. Es ist heiß in Wien in diesen Tagen, denn HUNDSTAGE nennt man die Zeit zwischen dem 24. Juli und 23. August, in der es in Mitteleuropa besonders heißt ist, was sich im kontinentalen Wien steigert.

 

Es sind sechs Episoden, die wir an einem Wochenende südlich von Wien miterleben und damit auch, wie sich die Wege der einzelnen Dargestellten am Schluß kreuzen. Zuerst schockiert einen neben der Hitze, die durchweichte, transpirierende und zerlaufende, vorrangig sehr dicke, ja fette Menschen zeigt, die Unbehaustheit der Umgebung zwischen unendlichen lauten und stark befahrenen Autostraßen, kalten betonierten Einkaufszentren und klein parzellierten Einfamilienhäuser, wo der Nachbar mitbekommt, was beim anderen passiert. Brutal ist er, der Alte, der als Witwer das Leben der Anderen nicht ertragen mag und auf die Störung seiner Ruhe mit dem laufenden Rasenmäher reagiert.

 

Es geht also um die zunehmende Nervosität angesichts der Hitze von außen, die die potentielle Aggressionsbereitschaft von innen steigert. Wir erleben später diesen Kotzbrocken als romantischen, gefühlsbetonten Eigenheimwitwer, der seine ältliche Haushälterin/Putzfrau erst arbeiten und einkaufen läßt – was in der gewaltigen Vorratskammer wie für den Weltuntergang gelagert wird und für eine gehörige Paranoia des Witwers spricht - , die er dann aber zum Feiertag quasi als Ehefrau bestellt, die die Kleider seiner verstorbenen Frau tragen muß – sie darf aber aussuchen, was ihr am besten gefällt - und die mit diesen einen hinreißenden Hausfrauen-Striptease hinlegt, der auch unseren Eigenheimbesitzer endlich glücklich macht.

 

Auch der Vertreter, der Versicherungen verkaufen will, hat unser Mitgefühl, denn auch ihm setzt die Hitze zu und gleichzeitig will bei solchem Wetter erst recht keiner Geschäfte machen. Daß auch dieser Vertreter das diesem Berufszweig so oft unterstellte Doppelleben mit Zweitfrau führt, ist irgendwie komisch. Seit diesem Film, dessen spannende Geschichten wir nicht alle erzählen können, interessiert uns die Art und Weise, wie Seidl diese Wirkung erreicht, daß wir die Wirklichkeit abgebildet glauben, gleichzeitig aber wissen, daß es inszenierte Episoden sind. Seidl sagt dazu: „Es gab ein Drehbuch, aber keine geschriebenen Dialoge, es gab Schauspieler, aber mehr Nicht-Schauspieler, und es gab eine dokumentarische Arbeitsmethode.“ Fortsetzung folgt.

 

P.S. Nicht in Worte zu fassen, ist, was Seidl spätere Starschauspielerin Maria Hofstätter als impertinente, distanzlose, wirklich unverschämte Nervensäge veranstaltet, wenn ihr Tagesablauf darin besteht, per Autostop die netten Fahrer, die sie mitnehmen, mit Musik und Gesprächen derart nervt, daß sie immer wieder herausgeworfen wird, was dem Regisseur die Gelegenheit gibt, im nächsten Auto dasselbe ablaufen zu lassen. Grandios.