f einzwei2Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 19. Dezember 2019, Teil 3

Redaktion

Paris( Weltexpresso) - Zwei Jahre nach Der Wein und der Wind haben Sie wieder einen Film in Paris gedreht. Was war der Ausgangspunkt für EINSAM ZWEISAM?

Ich hatte Lust, ein Porträt über das Paris von Heute zu machen. Paris verändert sich ziemlich schnell, und ich habe lange keinen Film mehr in meiner Stadt gedreht. Es sollte ein einfacher Film werden, kein großer Ensemblefilm. Ein Film über zwei Singles in Zeiten sozialer Netzwerke. Ich wollte sehen, ob sich etwas gewandelt hat: Sind es das Internet oder die sozialen Netzwerke die uns heute verbinden? Zeigt sich die Einsamkeit immer noch so wie in der Zeit von ...und jeder sucht sein Kätzchen?

In den Medien lesen wir immer davon, dass wir in einer Zeit der Anspannung leben, in einer Zeit von Depressionen, Hass und ständigen Konflikten. Ich spürte, dass man gerade jetzt von der Notwendigkeit der Liebe sprechen sollte. Warum existiert diese tiefe Sehnsucht – auch wenn alles schief läuft – doch noch jemandem zu begegnen und was löst diese „Anziehungskraft“ zwischen Menschen aus? Deshalb kam ich auf die Idee, den manchmal chaotischen Verlauf zu beschreiben, der zu einer entscheidenden Begegnung führen kann. Dieser Film entspricht dem Chanson „Histoire d’un amour“ von Gloria Lasso [spanischfranzösische Sängerin romantischer Balladen, 1922 – 2005]. Es handelt sich um eine „Liebesgeschichte“ oder vielmehr um eine Vorgeschichte „kurz vor der Liebe“. Ich schaue mir an, was vor dem ersten wirklichen Treffen passiert. Das Ziel war, diesen mysteriösen Zustand vor der Verliebtheit zu entwickeln. Wenn man von zwei einsamen Menschen in der Großstadt erzählt, entsteht diese Spannung: Werden sie
jemandem begegnen? Werden sie sich treffen? In dieses Spiel wollte ich den Zuschauer miteinbeziehen. Warum erwarten wir – wie die Protagonisten – diese Begegnung?



Nach Der Wein und der Wind haben Sie erneut mit Ihrem Drehbuch-Partner Santiago Amigorena zusammen gearbeitet. Wie lief die Zusammenarbeit?


Unkompliziert und sehr vergnüglich. Wir haben schon oft zusammen gearbeitet: Bei Abschlussklasse – Wilde Jugend – 1975, Ihr letzter Coup, Peut être... Fünfzehn Jahre später haben wir uns bei Der Wein und der Wind wieder gefunden. Zwischen uns herrscht eine Art Selbstverständlichkeit, wir sind an Zusammenarbeit gewöhnt, bereichern uns gegenseitig. Außerdem haben wir uns als Heranwachsende kennengelernt und viel gemeinsam erlebt. Es gibt eine fundamentale und für das Drehbuchschreiben
notwendige Gemeinsamkeit. Nicht zu vergessen: Wir haben beide eine Psychoanalytikerin als Mutter (bei ihm sind es sogar beide Elternteile). So dreht sich einiges um die Frage: „Was nützt Psychoanalyse?“. Die Psychoanalyse ist eine Angelegenheit, bei der die Frage aufkommt: „Wie kann man mit sich selbst im Reinen sein, um sich mit anderen zu verstehen?“. Dies kommt der Frage nahe, die man sich stellt, wenn man in einer Stadt wohnt: „Was verbindet die Menschen untereinander?“. Symbolisch gesehen war Der Wein und der Wind ein mit meinem Vater verknüpfter Film, EINSAM ZWEISAM ist mit meiner Mutter verbunden, ganz einfach aufgrund ihres Berufs.



Aber hat der Film nicht auch etwas mit Ihrem Vater zu tun, einem Wissenschaftler? Finden sich da nicht ein paar Charakterzüge in Mélanie, die ebenfalls als
Wissenschaftlerin arbeitet?


In meinem Alter und in Anbetracht dessen, dass meine Eltern noch leben, ist es wichtig für mich, davon zu erzählen, was ich ihnen verdanke. Der Wein und der Wind wie auch EINSAM ZWEISAM entsprechen meinem Wunsch, sie zu würdigen. Mein Vater hat sein Leben der Atomwissenschaft gewidmet und im CERN (Centre Européen de Recherche Nucléaire) gearbeitet und die Bestandteile der Materie untersucht. Dieses Forschen über das unendlich Kleine läuft parallel zur Forschung über das unendlich Große. Meine
Mutter hat ihr Leben dem Verständnis von Menschen gewidmet und den geheimnisvollen Mechanismen, die die menschliche Psyche antreiben. Sie war Psychologin in psychiatrischen Kliniken und im CMP (Centre medico psychologiques) bis sie Psychoanalytikerin wurde. Diese beiden Kinder des Krieges konnten gegenseitig ihre Wunden pflegen. Der eine im Glauben, dass der wissenschaftliche Fortschritt den Menschen helfen kann, die andere im Glauben, dass die psychoanalytische Methode heilen kann, um
seelische Kränkungen und Verletzungen zu überwinden. Ich fühle mich als Kind dieser beiden unterschiedlichen Vorgehensweisen, deren gemeinsames Ziel es ist, den Menschen zu helfen.



Im Film entspricht der Bezug zur unendlichen Kleinteiligkeit auch dem des Einzelnen in der unendlichen Weite der Großstadt...


Genau. Deshalb habe ich mir auch die Frage nach den gegenseitigen Tätigkeiten der Protagonisten gestellt. Bei Rémy fand ich es interessant, dass er in einem riesigen Lagerhaus vom Typ Amazon arbeitet und bei Mélanie, dass sie die Welt durch das Mikroskop sieht.



Haben Sie während der Dreharbeiten darauf geachtet, nicht eine Art ... und jeder sucht sein Kätzchen zu wiederholen?


Ja, das war schon etwas problematisch. Santiago hatte die Idee mit der Katze, die erst von Rémy aufgelesen wird und dann bei Mélanie landet. Für einen kurzen Moment habe ich zwar gedacht, „wir können eigentlich nicht wieder eine Katze einsetzen, ohne erneut bei ...und jeder sucht sein Kätzchen zu landen“. Aber letztendlich habe ich die Idee doch akzeptiert, da es um etwas ganz anderes geht. Das hat mich dann dazu gebracht, Garance Clavel und Renée Le Calm aus ...und jeder sucht sein Kätzchen mit in
diesen Film zu nehmen. Ich war auf dem 100-jährigen Geburtstag von Renée eingeladen und habe mir gesagt, sie muss unbedingt in dem Film auftreten. Sie repräsentiert den ewigen Mythos von Paris. EINSAM ZWEISAM ist weniger realistisch als ...und jeder sucht sein Kätzchen, der bewusst etwas dokumentarisch wirken und die Wandlung eines Viertels aufzeigen sollte. Die Hälfte der Schauspieler in ...und jeder sucht sein Kätzchen waren Laien. In EINSAM ZWEISAM wollte ich das keinesfalls wiederholen. Dieser Film ist sehr inszeniert, sehr Schauspieler-konzentriert und sehr stilisiert. Vielleicht mein am meisten stilisierte Film der letzten Jahre. Es war eine Heidenarbeit mit der Ausstattungschefin und der Chef-Kamerafrau, das hinzukriegen, was wir unter uns den „poetischen Neorealismus“ nannten. Ich liebe Filme wie Hafen im Nebel von Marcel Carné, Die große Illusion von Jean Renoir oder Liliom von Fritz Lang. Alles Filme, in denen man noch den Expressionismus spürt mit einer Stilisierung, die die Elemente der Wirklichkeit betont. Dieser Ansatz hat mich sehr interessiert und hat damit zu tun, sich von ...und jeder sucht sein Kätzchen zu unterscheiden.



Seit ... und jeder sucht sein Kätzchen hat es durch die Ausweitung der sozialen Netzwerke einen Umbruch in unserem Leben gegeben. Heute könnte man wohl nicht
mehr so schreiben wie zu damaliger Zeit ...


Stimmt. Jede technologische Veränderung im modernen Leben schafft Problematiken beim Schreiben und bei der Inszenierung. Jetzt sind es das Internet, Handys, Facebook, Twitter, Tinder oder Instagram, usw...Jede App hat Einfluss auf unseren Alltag, und wir können nicht so tun, als existierte diese Änderung nicht. Übrigens haben mir die Psychologen während meiner Recherche gesagt, dass die Nutzung der sozialen Netzwerke die individuellen Probleme verstärkt. Wer ständig sieht, wie andere ihr Leben in Szene setzen und verschönern, der gerät unweigerlich in eine Paranoia und verliert Selbstvertrauen, vor allem wenn jemand einsam und empfindlich ist. Die sozialen Netzwerke sorgen eben nicht nur für soziale Kontakte.



Ist es schwierig, einen lebenslustigen Film über zwei sehr mutlose Figuren zu schreiben?

Klar, das war nicht einfach. Ein Film, der gut tun soll, obgleich man Leuten zusieht, denen es schlecht geht, war natürlich einen Herausforderung. Produzenten oder Verleiher kriegen Angst, wenn sie hören, dass die zwei Hauptfiguren in einer Depression stecken. Für mich war es wichtig, ganz offen über die Depression zu sprechen. Wir leben in einer harten Zeit, in der es nicht opportun ist, sich mit der Frage nach dem individuellen Unbehagen auseinanderzusetzen. Es dominiert ein vom Fernsehen und den sozialen
Netzwerken propagierter Kult des „Smile“ und „Feel Good“, den man anprangern muss. EINSAM ZWEISAM versucht zu erzählen, wie man seine Situation verbessern kann. Da war es wichtig, dass es den Figuren am Anfang nicht gut geht. Unsere Zeit erzeugt viel Unsicherheit, Burnout und Depression. Mir schien es wichtig, diese moderne „Normalität“ darzustellen. Im Gegensatz dazu spürte ich Lust, dem Zuschauer Hoffnung zu geben, aus dieser Malaise herauszukommen. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die
Gewalt, Pessimismus, Elend und Unglück sexy finden. Ich ziehe es vor, eine positive Seite zu betrachten (auch auf die Gefahr hin, dass einige das für naiv oder dümmlich halten) und möchte zeigen, wie man sich aus schlimmen Situationen oder Krisen befreien kann.



In EINSAM ZWEISAM ist es auch eine Frage des Umgangs mit Traurigkeit. Selbst wenn die persönliche Situation von Rémy und Mélanie unterschiedlich ist...


Wie sagt die von Camille Cottin gespielte Therapeutin: „Wenn jemand geht, ist das als wenn jemand sterben würde. Da liegt Arbeit vor uns...“



Aber ist so etwas nicht belastend, wenn man einen optimistischen Film machen will?


Ohne sich mit den Dramen des Lebens zu beschäftigen ist Kino unmöglich. Egal, ob Komödie oder Tragödie – das Drama ist immer Motor der Fiktion. Chaplin spricht in Moderne Zeiten vom Drama der Fließbandarbeiter, das verhindert aber nicht ein befreiendes Lachen. In EINSAM ZWEISAM wollte ich von den kleinen Traumata erzählen, die ganz normale Leute quälen. Jeder von uns durchleidet mal deprimierende Momente und „kleine“ Einschläge, aber für diejenigen, die sie durchleben, sind dies große
Verletzungen... In diesem Film wollte ich wirklich „klein“ bleiben, mich auf die winzigen Dinge des Alltags konzentrieren, wie z.B. einen Laufpass zu bekommen, eine Beförderung oder auch eine Katze von der Nachbarin zu erhalten, einen Tanzkurs zu absolvieren, im Lebensmittelladen einzukaufen. In diesem Film sehen Sie nur scheinbar belanglose Dinge. Aber Vorsicht! Klein und belanglos bedeutet nicht zwingend dasselbe und muss auch nicht uninteressant heißen, im Gegenteil! Georges Perec, Autor des Buches „Die Dinge“, sagt: „Ich interessiere mich nicht für Züge, die perfekt funktionieren, die nicht entgleisen“.
Grundsätzlich ist es doch so, dass man von Zügen, die entgleisen, viel mehr erzählen kann. Das Hollywood-Kino weiß das sehr gut und zeigt öfter entgleiste Züge oder Verrückte, die den Planeten in die Luft sprengen. Ich bin auch diesen entgleisenden Zügen sehr zugeneigt und damit den ganz „normalen“ Menschen in ihren „normalen“ Leben. Über sie kann man viel Spannendes erzählen.


Man hat den Eindruck, dass ihre Filme immer komplexer wurden, umfangreicher, in Bildern schwelgen. EINSAM ZWEISAM wirkt so, als seien Sie quasi von der
Luxuskarosse wieder auf die Métro umgestiegen.


Da haben Sie Recht. Das ist ein wenig meine Entwicklung seit „Dix pour cent“ („Call my Agent“). Ich hatte den Eindruck mit Beziehungsweise New York ein „Überflieger“ zu sein, mit dem Effekt: immer mehr Stars, mit Figuren, die sich außerhalb des Alltaglebens bewegen, mit Leuten, die in New York leben wollen, usw... Bei „Dix pour cent“, einer Fernsehproduktion, ging es nicht mehr weiter nach oben. Es ging mir jetzt darum, der Einfachheit zu vertrauen. Schon in Der Wein und der Wind spürte ich den Wunsch, nicht mehr diese Richtung zu verfolgen. Mit EINSAM ZWEISAM habe ich mir gesagt, „ich will noch mehr reduzieren“. Anfänglich hatte ich Angst vor diesem „nichts Besonderem“. Ich habe mich gefragt, ob ich da vielleicht zu weit gehe. Aber ich hatte Lust auf diese minimalistische, mitnichten hochtrabende oder prätentiöse Linie. Ich sagte mir, man muss auch mal Bescheidenheit wagen.



Sie sind nach Paris zurückgekehrt, aber nicht in Ihr gewohntes Viertel! Diesmal haben Sie im 18. und 19. Arrondissement gedreht. Warum?


Weil es eben nicht meine Viertel sind. Ich wollte den Blick auf ein anderes Paris werfen. Erst habe ich mir gesagt, „ich werde von Belleville erzählen“. Aber das Viertel war doch zu nah dran und ich hatte es auch teilweise in So ist Paris gefilmt. Ich wusste, es gibt ein neues Paris, das ich nicht kenne und es wäre sicherlich spannend, dieses zu besuchen. Ich wollte es erkunden, in unbekannten Ecken spazieren gehen wie in La Valette oder der Gegend um die Métrostation Stalingrad, die nicht mehr so war, wie ich sie vor fünf oder zehn Jahren gekannt hatte. Oder die „Goutte d’Or“, wo trotz Gentrifizierung noch Afrikaner und Nordafrikaner wohnen, Leute von den Antillen oder aus anderen Ländern und eine ganz neue Generation das Leben bestimmt. Die Inder, die an der Porte de la Chapelle leben, wie auch die Asiaten... Und die sogenannten „Bobos“, alternativ angehauchte junge Wohlstandsbürger, die im Allgemeinen gerne in diesem Bevölkerungsmix leben. Leute, die offen sind für soziale und ethnische Unterschiede. Das ist ein
positives Paris, viel familiärer und friedfertiger als viele denken. Ich fand es aufregend, von diesem Paris zu erzählen, selbst wenn es natürlich Spannungen im Viertel gibt. Es war wichtig zu zeigen, dass das Alltagsleben friedlich abläuft, und der berühmte Zug nicht entgleist.


Um Rémy zu zitieren: In Paris ist die Luft weniger rein. Am Liebsten drehen Sie doch hier, oder?


Sagen wir es mal so: Paris ist meine Stadt und ich liebe meine Stadt... Selbst wenn ich gerne in New York drehe, in Barcelona, Sankt Petersburg oder in der Bourgogne. In Paris kennen mich die Leute und ich spüre eine Haltung mir gegenüber, die mich bewegt. Es gab auch schon Situationen, in denen die Leute sagten: „Wir akzeptieren keine Dreharbeiten mehr, aber wenn Sie es sind, sind wir einverstanden!“. Ein unglaubliches Privileg. Es ist ein angenehmes Gefühl, dass die Leute mir Vertrauen schenken, ob es nun der Café-Betreiber ist, die Passanten auf der Straße, die Schauspieler... Wenn man sich so „unterstützt“ fühlt, wachsen einem Flügel, man freut sich über bestimmte Freiheiten. Dieses Gefühl von Freiheit ist sehr wichtig und ich fühle mich freier bei mir zu Hause, eben in Paris. Auch wenn es sicherlich einfacher ist, in den
Weinbergen der Bourgogne zu drehen, wo sich niemand beschwert...


Foto:
© Verleih

Info:
BESETZUNG
Ana Girardot     Mélanie
François Civil    Rémy
Camille Cottin   Mélanies Psychiaterin
François Berléand    Rémys Psychiater
Simon Abkarian       Mansour