f die wutenden1Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 23. Januar 2020, Teil 13

Redaktion

München (Weltexpresso) - Les Misérables ist Ihr erster Spielfilm. Sie arbeiten aber bereits seit ungefähr 15 Jahren im Filmgeschäft. Wie waren Ihre Anfänge?

Mit acht oder neun war ich mit dem Drehbuchautor und Regisseur Kim Chapiron befreundet. Während der Ferien kam er in den Activity-Club in Montfermeil, da haben wir uns getroffen. Im Alter von 15 Jahren gründete er mit den Regisseuren Romain Gavras und Toumani Sangaré ein Kollektiv mit dem Namen Kourtrajmé. Ich war 17 damals, die Digitalisierung steckte in den Kinderschuhen, ich kaufte meine erste Kamera und habe seitdem nicht aufgehört zu drehen. Ich habe alles gefilmt, mein Viertel, die Dreharbeiten von Kourtrajmé.


Ihre Filmschule war also die praktische Arbeit?

Genau, so haben wir alles gelernt. Wir wollten selbst Filme machen, ohne Hilfe von irgendwem. Wir waren jung und verrückt. Heute sind wir vielleicht etwas weniger verrückt, aber einen Funken Irrsinn muss man sich immer erhalten. Wir wollen nicht in Schubladen gesteckt werden, wie es leider manchmal passiert in der Filmwelt.


Sie haben Web-Dokumentationen gedreht, die für viel Aufmerksamkeit gesorgt haben, wie „365 Tage in ClichyMontfermeil“ und „365 Tage in Mali“. Können Sie diese Erfahrungen beschreiben?

Ich habe mich schnell aufs Dokumentarische spezialisiert mit „365 Tage in Clichy-Montfermeil“, der 2005 während der Randale entstand. Die Aufstände explodierten, genau vor dem Haus, in dem ich wohnte, und da ich immer und alles filme, ist der Film ganz natürlich entstanden. Ich hatte ungefähr hundert Stunden Material. Ich hatte Angebote von Medien, die meine Bilder kaufen wollten, da sie die einzigen waren aus der Sicht eines Insiders. Ich entschloss mich aber, nichts zu verkaufen und meinen eigenen Film zu machen. Alle unsere Kourtrajmé-Filme standen kostenlos im Internet zur Verfügung – damit haben wir vor YouTube oder Dailymotion angefangen.

Ein paar Jahre später drehte ich „365 Tage in Mali“ nach den gleichen Prinzipien. Die Zeitungen schrieben, dass Mali der gefährlichste Ort der Welt geworden wäre wegen Al Quaida und dem sogenannten Islamischen Staat, aber ich kannte das Land gut, und mein Bild stimmte nicht mit dem in den Medien Bild verbreiteten überein. Ich beschloss, hinzufahren und begann, planlos zu filmen. Bei meiner Rückkehr habe ich das Material Fernsehsendern angeboten, aber keiner war bereit, es so zu zeigen wie es war. Also stellte ich es ins Internet.


Dann kamen „Go Fast Connection“ und „A Voix Haute“, in Co-Regie mit Stéphane de Freitas, die beide für Furore sorgten ...

„Go Fast“ ist Doku-Fiktion und entstand drei Jahre nach den Aufständen, in der ich das Thema aufgreife, wie die Medien aus den Vororten berichten. „A Voix Haute“ war ursprünglich ein Indie-Projekt, in das France Television einstieg. Sie gaben uns totale Freiheit: Wir haben es gedreht, und es gefiel ihnen – so sehr, dass sie einen Kinostart vorschlugen. Dieser Film zeigt, dass es noch Hoffnung gibt in den Suburbs, trotz aller Probleme dort, dass die Menschen aus diesen Vierteln Talent haben und nicht immer dem Klischee entsprechen, das man von ihnen hat. Das war immer mein Ansatz: die Realitäten zeigen.


DIE WÜTENDEN – Les Misérables ist Ihr erster klassisch produzierter Spielfilm. Ist das ein Höhepunkt Ihrer bisherigen Erfahrungen?

Ich bin mir nicht sicher, ob es ein Höhepunkt ist. Ich hoffe, es ist eher ein Aufbruch als ein Ankommen. Aber es ist richtig, dass ich in diesem Film etwas über mein Leben erzähle, meine Erfahrungen und die meiner Verwandten. Alles in diesem Film basiert auf aktuellen Ereignissen: Der Jubel beim Weltmeisterschafts-Sieg natürlich, die Ankunft des neuen Cops im Viertel, die Drohne, selbst der gestohlene Löwe und die Zigeuner.

Fünf Jahre lang habe ich alles gefilmt, was in meinem Viertel vor sich ging, vor allem die Polizisten. In dem Moment, wenn sie auftauchten, habe ich meine Kamera eingeschaltet und sie gefilmt, bis zu dem Tag, an dem ich einen wirklichen Polizei-Schnitzer aufgenommen habe. Ich wollte die unglaubliche Diversität zeigen, die das Leben dieser Viertel bestimmt. Ich lebe immer noch dort: Es ist mein Leben, und ich liebe es, dort zu filmen. Es ist mein Set!


Sie vermeiden Schwarzweiß-Malerei, es sind nicht die „Leute des Viertels gegen die bösen Polizisten“ oder umgekehrt. Sie betrachten Ihre Protagonisten ohne Vorurteile oder verallgemeinernde Charakterisierungen.

Natürlich, denn Realität ist immer komplex. Gut und böse gibt es auf beiden Seiten. Ich versuche, jeden Charakter zu zeigen, ohne über ihn zu urteilen. Wir bewegen uns in einer so komplexen Welt, dass es schwierig ist, schnelle und definitive Urteile zu fällen. Die Nachbarschaft ist ein Pulverfass, es gibt Clans, und trotzdem versuchen wir alle, zusammen zu leben und zu vermeiden, dass alles aus dem Ruder läuft. Das zeige ich in dem Film – die kleinen alltäglichen Arrangements, die jeder trifft, um durchzukommen.


All das passiert vor dem Hintergrund von Arbeitslosigkeit und Armut, der Wurzel aller Probleme ...

Das Zusammenleben ist einfach, wenn man Geld hat. Ohne Geld ist es viel komplizierter, man muss Kompromisse machen und Arrangements treffen, kleine Deals ... das ist eine Frage des Überlebens. Auch die Polizisten sind im Survival-Modus, auch für sie sind die Umstände hart. DIE WÜTENDEN – Les Misérables ist weder pro-Pack noch pro-Cops. Ich habe versucht, so fair wie möglich zu sein. Ich war zehn, als ich zum ersten Mal von der Polizei aufgehalten und durchsucht wurde – das zeigt, wie gut ich die Cops kenne, wie lange ich in ihrer Nähe mit ihnen gelebt habe. Und ich habe mir gesagt, ich kann es mir erlauben, mich in die Haut eines Polizisten zu versetzen und einen Teil des Films aus ihrer Perspektive zu erzählen.

Die meisten dieser Polizisten sind nicht gebildet – sie leben selbst in schwierigen Umständen, mit niedrigem Lohn und in den gleichen Wohnungen wie wir. Sie drehen den ganzen Tag ihre Runden, schwer angeödet, und machen ständig Ausweiskontrollen, um ein bisschen Action zu haben. Das ist der verflixte Kreislauf. Die Flics kennen ihre Einwohner genau, und machen ihnen trotzdem das Leben schwer mit ihren Kontrollen.


Könnte man DIE WÜTENDEN – Les Misérables als humanistischen, politischen Film bezeichnen, in dem Sinne, dass Sie nicht Individuen richten, aber implizit ein System entlarven, in dem jeder als Opfer endet, Bewohner wie Cops gleichermaßen?

Genauso ist es, und die Verantwortung dafür tragen die Politiker. Sie haben zugelassen, dass sich die Situation zum Schlechteren entwickelt seit 30 oder 40 Jahren. Sie haben uns eingeseift mit ihren Parolen und Plänen, und das Resultat ist, dass sich nichts verändert hat. Einzige Ausnahme: die Renovierung der Häuser von Borloo. Das hat unseren Alltag verbessert. Trotz aller Probleme haben wir alle gelernt, miteinander zu leben in diesen Vierteln – 30 verschiedene Nationalitäten Seite an Seite.

Diese Mischung gibt es nur in den Vorstädten, im Zentrum von Paris ist das ganz anders. Jedes Mal, wenn ich die Périphérique überquere, betrete ich ein anderes Universum, ein überwiegend weißes. Wenn ein Pariser in die Vorstadt kommt, meint er, er macht einen Abenteuertrip nach Afrika oder in den Irak. Auch wenn es nur fünf Minuten mit dem Auto sind! Das ist schade, denn die Vororte leben, es gibt dort eine unglaubliche Energie, nicht nur Drogen und Gewalt – die es auch im Zentrum von Paris gibt ...

Das Leben in den Vorstädten ist Lichtjahre entfernt von dem Bild, das die Medien zeigen. Wie könnten Politiker jemals unsere Probleme lösen, wenn sie uns nicht gar nicht kennen und nicht wissen, wie wir leben!

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Info:
DIE WÜTENDEN - LES MISÉRABLES
von Ladj Ly, F 2019, 102 Min.
mit Damien Bonnard, Alexis Manenti, Djebril Zonga, Issa Perica, Steve Tientcheu, Jeanne Balibar
Drama / Start: 23.01.2020

Abdruck aus dem Presseheft