Melancholia ODER von Triers schwüle Melancholie

 

Von Alban Nikolai Herbst

Καὶ συνήγαγεν αὐτοὺς εἰς τὸν τόπον
τὸν καλούμενον Ἑβραϊστὶ Ἁρμαγεδών.

 

Berlin (Weltexpresso) - Der Ort, an dem sich die Könige – zeitgenössische Millionäre – des Lars von Triers versammeln, sein >>>> Armageddon also, liegt vor einem restaurierten Schloß nahe dem Wald. Es erstreckt sich dort ein Golfplatz mit 18 Löchern. Zu sagen insofern, es gehe den hier Lebenden recht gut, ist eher euphemistisch. Man hat Pferde, mehrere sehr elegante Autos, einen Geländewagen selbstverständlich und sogar einen Cabby. Justine ist umschwärmte und hochdotierte Werbetexterin, ihre Schwester Claire mehr als nur begütert unter der Haube. So weit, so beliebig. Doch dann ist Antares zu sehen, vermeintlich, im Sternbild des Skorpions. Justine sieht ihn zuerst. „Daß du ihn mit bloßem Auge erkennen kannst!“ staunt ihr Schwager. Da weiß man noch nicht, daß der Erde Untergang begonnen hat.

 

 

Der vermeintliche Antares ist nämlich der Weihnachtsstern, doch invertiert. Sehr bald schon - von wem, das ist nicht genannt – wird er als Melancholia benamt.
Das Sujet ist, von Raumschiff Orions >>>> „Planet außer Kurs“ bis >>>> Michael Bays „Armageddon“ aus dem Jahr 1998 gängig, fast banal. Nicht so, freilich, daß der Untergang gewollt wird. Nämlich ist Justine nicht mond-, sondern sozusagen antaressüchtig, wird es, unmittelbar, kaum daß sie Melancholia, da noch als Ares, erblickt. Der Todesplanet nimmt Besitz von ihrer allerdings bereits von der hochdepressiven Mutter ausgefüllten Seele. Was mit einem FrauImBild-Glück beginnt, der weißen Ziehharmonika-Limousine zur Hochzeit, schlägt unvermittelt in Destruktion um – eine Vordestruktion, die auf einer zweiten, unterlaufenden Ebene von dieser Mutter in Gang gebracht wird, als sie mit wenigen Bemerkungen die ganze riesige Hochzeit schmeißt.

 

Es gibt noch mehr Indizien in dem Film, daß Ursache der schweren Depression, der Justine anheimfällt, durchaus nicht der vermeintliche Antares ist, sondern eine sei es genetische, sei es sozialisierte Disposition Justines (endogene, bzw. exogene Depression). Lars von Trier legt aber nahe, es sei Melancholia Auslöser und die Krankheit nicht Krankheit, sondern Hellsicht. Folgt man dem, dann werden die Menschheit und ihr Planet mit vollem Recht zerstört.

 


Das ist ungefähr die Fabel, die sowohl >>>> Johannes erzählt, als auch >>>> in der dortigen Diskussion unter dem Strich steht. Es ist das, was diesen Spielfilm offenbar wirken läßt. Liest man ihn hingegen, wozu ich nicht nur tendiere, als das Psychogramm einer Depressionskranken, gewinnt der Film erst an Größe; ansonsten ist er schlicht banal bis in die suggestiven Mittel, deren sich, oft bis zu meinem Überdruß, von Trier hier bedient. Den ich sonst schätze.


Das geht zum einen mit der Musik los, der sich die Wirkung des Filmes in allererster Linie verdankt. Von Trier legt das Vorspiel zum Dritten Aufzug Tristan & Isolde, und selbstverständlich nur auszugsweise und diesen Auszug minimalistisch permanent repetiert, unter seine Fabel – nämlich eben jenen Akkord Richard Wagners, der für Tristans Todessehnsucht steht – aber eines Todes, der die einzig ehrbare Lösung aus einem für die mittelalterliche Lehnsgesellschaft unauflösbaren Konflikt war.

 

Das ist bei Wagner subjektive Objektivität und durchaus nicht für die ganze Welt gemeint, auch dann nicht, wenn Schopenhauer es grundierte, sein freilich buddhistisch geformter Pessimismus. Bei Lars von Trier wird der Tristanakkord, der nach 1859 die gesamte Musikgeschichte des Abendlandes umgeworfen und bestimmt hat, zum eigentlichen Handlungsträger; doch geht er mit ihm ebenso mißbräuchlich wie >>>> Visconti mit Gustav Mahlers Adagietto um, und ebenso schwül. Der Mißbrauch ist sogar noch größer, weil van Triers Film – auf seiner symbolischen Ebene, unter der Johannes‘ Offenbarung versteckt ist – nicht die schwere Melancholie eines alternden Schwulen erzählt, sondern etwas supponiert, das für die ganze Menschheit gerecht sei. Stellt man das infrage und wählt die psychiatrische Lesart, fällt der gesamte Symbolismus von Triers in sich zusammen, und man ist dann ein wenig geekelt besonders von der Schlußsentenz.

 

Denn überhaupt ist zu fragen, den Drehbuchautor, der Regisseur zugleich ist, weshalb denn nicht nach den deutlichen und galoppierenden Zerfallserscheinungen Justines sofort ein Psychiater beigezogen wird. Justine wäre dann nämlich wenigstens medikamentös, wenn nicht sogar stationär behandelt worden. Dann aber wäre der Weltuntergang ausgeblieben, der uns als Strafe des Weltalls unterschoben wird: „Wir sind allein“, sagt Justine und meint die Menschheit, „Leben gibt es nur auf der Erde“ - was abermals testamentarisch gedacht ist, sozusagen ptolemäisch oder, um es ironisch auszudrücken, kosmologisch unaufgeklärt. Dieser voraufklärerische Zug durchzieht den gesamten übrigens nur dort wirklich schwermütigen Film, wo er sich auf die Typologie der Personen konzentriert.

 

Seine Bilder sind hingegen ein Kitsch, den er durch Bildzitate von Breughel bis >>>> Magnolia aufzuwerten versucht. Sie lenken überdies, immer mit dem zum bloßen Gestus erniedrigten Tristan-Akkord, der die Übergänge verschmiert, von sonst allzu offensichtlichen Unglaubwürdigkeiten ab, etwa jener, daß der höchst präsente und agile Schwager, der seinen eigenen Zweifel am glückhaften Ausgang der Planetenbegegnung geradezu hyperaktiv kaschiert und nachher genau das ausgesprochen sinnvoll: „Es hat doch keinen Sinn, alle verrückt zu machen“ - daß dieser Mann, als ihm das Ende dann als unausweichlich bewußt wird, - daß er da die Todestabletten nimmt, die seine Frau für den Fall aller Fälle verwahrt hat, - daß er sie auf der Terrasse sitzen- und nicht nur das, sondern auch sein von ihm immer innigst betreutes Söhnchen mit der kommenden Katastrophe alleinläßt.

 

Weshalb soll er den beiden zehn Stunden voraussterben wollen, dazu dann noch – das ist nichts als ärgerlichstes Schmierentheater – in einer Box bei den Pferden?
Weshalb? Na, damit von Trier ihn weghat. Nun kann er die Depression Justines auf die anderen ungehemmt übertragen, etwa auch auf den Jungen, den der Film in der Szene eines letzten Fluchtversuchs, nicht nur weiterhin schlafen läßt – die Mutter rennt, den doch schon schweren Achtjährigen immer im Arm, durch den Wald und durch plötzlichen Hagel (Offenbarung 16,21), aber wenn das Kind dann endlich erwacht, ist es nur noch apathisch: Apathie ist ein Merkmal schwerer Depressionen, wie auch Schlafsucht, die in van Triers Spielfilm ebenfalls, ich muß es sagen, abgehakt wird.

 

„Abgehakt“ deshalb, weil es ihm, letztlich, um das Psychogramm einer Depressiven eben gar nicht zu tun ist, sondern Justine wird zu einer Seherin hochstilisiert, die Wahrheit schaue. Diese prophetische Schau wird freilich einzig mit einem so simplen wie suggestiven Trick des Drehbuchs, also rein des Plots, in den Zuschauer hineinmanipuliert: Justine alleine weiß, wie viele Bohnen in einer mit Bohnen drittels gefüllten Glasflasche sind; alle anderen, die rieten, lagen völlig daneben. Deshalb darf sie auch weiterhin, mit schwerem Ausdruck, sagen: „Die Erde ist schlecht“ - und also gebühre ihr der Untergang. Wenn wir uns vor Augen halten, wie viele Geschöpfe es gibt, dann hat die Unterstellung und ihr „Lösungs“vorschlag durchaus etwas Faschistoides, sofern man eben nicht die psychiatrische Lesart wählt, sondern sich von dem zu Schwulst arrangierten Wagner mitsamt den über die derart mißhandelte Musik projizierten Bildern einseifen läßt. Sogar ein Kinderopfer wird plötzlich gerecht.

 

Wie unheilvoll solch ein Disponieren ist, wird unvermittelt jedem klar, der wirklich Kinderelend, und überhaupt Elend, sah. Nun wird auch deutlich, weshalb von Triers Film, wenn er funktionieren soll, das Milieu der Oberen Zehntausend wählt und ihm Bilder sei‘s der historischen Décadence, sei‘s eines übrigen Ästhetizismus zuschreibt und sowohl ein Protest, wie Aufstand überhaupt, geschweige Rebellion Kategorien gar nicht sein dürfen. Zunehmend, angesichts des vor dem Zuschauer ausgebreiteten Luxus‘, fragte ich mich: worunter leiden diese Menschen eigentlich?

 

Darunter, daß Justines Werbechef ein Arschloch ist und sie sinnloser Arbeit nachgeht? Nun wohl, sie hat‘s ihm ja gezeigt, und trefflich – jetzt wäre konsequent weiterzuhandeln. Statt dessen wird sie depressiv. Gut, über die, wie gesagt, Mutter hergeleitet. Und die Vereinigung sucht sie, abermals Wagner-auf-billig, im kommenden Tod. Das scheut auch vor einer D.H.Lawrence (>>>> „Sun“, 1926) entnommenen, dort enorm lebensbejahenden, hier negativ herumgedrehten, nämlich auf passend gemachten, mit >>>> Millais kolorierten Szene nicht zurück, worin sich Justine nackt dem neuen Mond anbietet, also dem Tod; das Ophelia-Motiv taucht denn auch anderswo auf in dem Film. Hingegen die sonst sehr zupackende Schwester, die Millionärsgattin, zittert nur noch vor Angst – und wenn sie dann endlich, von ihrem suizidierten Mann zurückgelassen, in Haltung findet und den Weltuntergang angemessen begehen will, mit Champagner und Stolz ihm sozusagen ins Gesicht sehen, läßt sie sich das, anstelle die Schwester mal angemessen zu ohrfeigen, von ihr zerdepressieren.

 

Und selbst da ist von Trier noch völlig unklar - möglicherweise mit Absicht, denn jetzt will er rühren. Nämlich deckt die melancholische Schwester dem kleinen Jungen den Abschiedstisch dann doch: eine „Zauberhöhle“, nur das Gestänge eines Tipis, worin sich die drei – der Bub und die zwei Schwestern – bei den Händen nehmen, um den gerechten Tod zu erwarten. „Schließe jetzt die Augen.“ Wir aber kriegen ihn zu sehen: kurz und, ja, schmerzlos, muß man sagen: denn man ist wirklich ganz erlöst. Nicht von der schlechten Welt, bewahre! Doch von dem schlechten Film. Und wer ihn noch für ein Meisterstück hält, tut, was der Junge tat– die Augen schließen.