Redaktion
London (Weltexpresso) - Ich fand ein paar meiner alten Notizbücher. Auf einer Seite stand die Frage, was wäre, wenn wir eine Familie hätten, die in einem kleinen Haus wohnt, aber sich kaum sieht? Jedenfalls nicht tagsüber. Die Turner-Familie in SORRY WE MISSED YOU ist genau diese Familie –voneinander getrennt durch einen endlosen Arbeitsalltag.
Ich kann mich noch daran erinnern, wie mir Ken vor ungefähr 20 Jahren einmal sagte, dass ein Film wie ein Eisberg im Ozean sei und „man zwar nur die Spitze sieht, aber das gewaltige Gewicht dieses Blocks unter der Wasseroberfläche durchaus spüren kann“. Diese Aussage hat sich in mir festgebrannt.
All die Ideen, Kritzeleien und Gedankenspiele, die ich in meinen Notizbüchern verewige, bevor ich wirklich mit dem Schreiben beginne, sind dieses Gewicht unter der Wasseroberfläche. Manchmal kommen sie nicht ins fertige Drehbuch und schon gar nicht in den fertigen Film, aber irgendwie sind sie trotzdem ein Teil von allem.
Im Laufe der Zeit hat sich auch SORRY WE MISSED YOU immer weiter entwickelt, aber ein paar Gedankenfetzen und Charakter-Gerüste aus meinen ersten Notizen lassen sich wiederfinden.
Liza Jane, Tochter: Sie ist zehn oder elf Jahre alt und fühlt sich manchmal wie David Attenborough – auf der Suche nach Anzeichen menschlichen Lebens in der Stille ihres Heims. Sie liebt die Natursendungen im Fernsehen und hat eine ausgeprägte Fantasie, die ihr während der vielen Stunden, in denen sie allein ist, wie ein Freund zur Seite steht. Sie weiß, dass ihre Familie irgendwo da draußen ist, Teller stehen vielleicht noch auf dem Tisch, ein bisschen Wäsche liegt herum. Sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter sind draußen auf der Jagd und gehen ihrem harten Alltag nach, von dem sie ganz ähnlich wie Großkatzen am Abend manchmal mit leeren Händen und zerknirscht zurückkehren.
Seb, Sohn: 15 Jahre alt, sein Kopf steckt in einem Hoodie, auch wenn er gerade mal keinen trägt. Am liebsten wäre er unsichtbar. Sein Motto ist, lasst mich in Frieden, haltet mir keine Predigten, ich werde schon selbst herausfinden, wo es lang geht. Seb und Liza Jane stehen sich nahe, an den meisten Abenden essen sie gemeinsam und schauen Videos. Einige bringen sie zum Lachen, andere hinterlassen nur eine Leere. Seb ist sehr viel einsichtiger, als es erscheint. Er ist genauso klug wie seine Schwester, aber er gibt sich alle Mühe, es nicht zu zeigen, und es bereitet ihm eine diebische Freude, wenn es ihm mal wieder gelingt, seinen Vater auf 180 zu bringen. Seb weiß genau, auf welche Knöpfe er bei Ricky drücken muss, und er tut es immer wieder. Er kann einfach nicht widerstehen, und er wüsste auch gar nicht, warum er das sollte. Wenn sein Vater ihn anschreit, dann ist er wenigstens wirklich anwesend. Vor ein paar Jahren haben die beiden noch viel miteinander gelacht, und auch wenn er es niemals zugeben würde, vermisst er auch die Gespräche mit Abby, die ihn wie kein anderer kennt. Sebs große Leidenschaft, nachdem er sich kurz auch mal am Parkour versucht hat, sind Graffitis.
Wenn er nachts durch die Straßen streift, kann er die Wut in sich summen hören. Er fühlt sich frei und wild, alles, was sein Vater nicht ist. Er denkt in Bildern, nicht in Worten.
Ricky und Abby, die Eltern: Beide erinnern sich noch an die Nacht auf dem Rave in Morecambe, wo sie sich das erste Mal begegneten. Liebe auf den ersten Blick. Sie waren wie füreinander geschaffen und alles passte.
Northern Rock Building Society oder: Wie die Finanzkrise ihren Traum vom Eigenheim zunichte machte. Wäre Northern Rock nur einen Monat später kollabiert, wäre alles anderes gekommen. Abby weinte die gesamte Nacht, nachdem klar wurde, dass mit dem Kollaps ihr Kredit bei Northern Rock und damit ihr Haus weg war. Dieses Haus war ihr gemeinsames Haus, hier sollte ihr zweites Kind zur Welt kommen. Aber so sollte es jetzt nicht mehr sein. All’ das erscheint ihr wie in weiter Ferne, genauso wie die vielen Umzüge danach sie immer weiter verunsicherten. Manche Menschen träumen davon, beim Lotto zu gewinnen, Abby träumt davon, ihr eigenes Haus zu dekorieren. So wie sie es will und nicht irgendein Vermieter. Und niemals mehr umziehen müssen.
Ricky: Er hat eine große Energie, er will etwas erreichen, auch wenn er niemals wirklich den richtigen Platz für sich gefunden hat. Sein letzter Job war sein letzter Strohhalm. Er war als Landbau-Assistent tätig, er arbeitete doppelt so schnell wie sein Kollege, der dann befördert wurde. Das war es für ihn. Er schmiss hin. Er ist ein impulsiver Mann. Und er ist stolz darauf, niemals in seinem Leben auf Hilfe vom Staat angewiesen gewesen zu sein. Auf der Heimfahrt in einem Van voller Arbeiter nach einem harten Arbeitstag stellte er sich beim Dösen gerne vor, was aus seinen Kindern werden könnte. Er träumte davon, dass sein Sohn Seb in die Uni geht, gefolgt von seiner Tochter Liza Jane, ein paar Jahre später, als Klassenbeste. Sie wären die ersten in der Familie. Sie würden keine Schwielen an den Händen haben.
Abby hat Rickys unabhängige Seite immer bewundert. Sie wusste, dass hinter seinen oft übertriebenen Aussagen große Risikobereitschaft stand, sie sich aber gleichzeitig auf seine Loyalität verlassen konnte. Im Laufe der Zeit aber nervte all das aber mehr und mehr. Manchmal denkt er einfach nicht mehr klar, schaut einfach nicht mehr hin und verhält sich zu sprunghaft.
Mitgefühl ist ein mehr als wichtiger Teil von Abby. Woher kommt ihr großes Herz? Selbst die geistig kaum noch anwesenden Demenzerkrankten unter ihren Patienten können dieses Mitgefühl spüren, ihre zärtliche Wärme. In den letzten Monaten aber hatte sie das Gefühl, dass sie mehr Zeit in ‚anderen‘ Häusern verbringt als in ihrem eigenen. Wird das für den Rest ihres Arbeitsleben so sein? Wird es immer so knapp mit dem Geld sein, dass man keine andere Wahl hat?
Abby hasst Fluchen, Streit und Wut. Sie hat zu viel davon in ihrer Kindheit miterleben müssen.
Foto:
© Verleih
Info:
SORRY WE MISSED YOU
Regie KEN LOACH
Drehbuch PAUL LAVERTY
mit KRIS HITCHEN, DEBBIE HONEYWOOD, RHYS STONE, KATIE PROCTOR, ROSS BREWSTER, CHARLIE RICHMOND u.v.m.
Abdruck aus dem Presseheft
All die Ideen, Kritzeleien und Gedankenspiele, die ich in meinen Notizbüchern verewige, bevor ich wirklich mit dem Schreiben beginne, sind dieses Gewicht unter der Wasseroberfläche. Manchmal kommen sie nicht ins fertige Drehbuch und schon gar nicht in den fertigen Film, aber irgendwie sind sie trotzdem ein Teil von allem.
Im Laufe der Zeit hat sich auch SORRY WE MISSED YOU immer weiter entwickelt, aber ein paar Gedankenfetzen und Charakter-Gerüste aus meinen ersten Notizen lassen sich wiederfinden.
Liza Jane, Tochter: Sie ist zehn oder elf Jahre alt und fühlt sich manchmal wie David Attenborough – auf der Suche nach Anzeichen menschlichen Lebens in der Stille ihres Heims. Sie liebt die Natursendungen im Fernsehen und hat eine ausgeprägte Fantasie, die ihr während der vielen Stunden, in denen sie allein ist, wie ein Freund zur Seite steht. Sie weiß, dass ihre Familie irgendwo da draußen ist, Teller stehen vielleicht noch auf dem Tisch, ein bisschen Wäsche liegt herum. Sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter sind draußen auf der Jagd und gehen ihrem harten Alltag nach, von dem sie ganz ähnlich wie Großkatzen am Abend manchmal mit leeren Händen und zerknirscht zurückkehren.
Seb, Sohn: 15 Jahre alt, sein Kopf steckt in einem Hoodie, auch wenn er gerade mal keinen trägt. Am liebsten wäre er unsichtbar. Sein Motto ist, lasst mich in Frieden, haltet mir keine Predigten, ich werde schon selbst herausfinden, wo es lang geht. Seb und Liza Jane stehen sich nahe, an den meisten Abenden essen sie gemeinsam und schauen Videos. Einige bringen sie zum Lachen, andere hinterlassen nur eine Leere. Seb ist sehr viel einsichtiger, als es erscheint. Er ist genauso klug wie seine Schwester, aber er gibt sich alle Mühe, es nicht zu zeigen, und es bereitet ihm eine diebische Freude, wenn es ihm mal wieder gelingt, seinen Vater auf 180 zu bringen. Seb weiß genau, auf welche Knöpfe er bei Ricky drücken muss, und er tut es immer wieder. Er kann einfach nicht widerstehen, und er wüsste auch gar nicht, warum er das sollte. Wenn sein Vater ihn anschreit, dann ist er wenigstens wirklich anwesend. Vor ein paar Jahren haben die beiden noch viel miteinander gelacht, und auch wenn er es niemals zugeben würde, vermisst er auch die Gespräche mit Abby, die ihn wie kein anderer kennt. Sebs große Leidenschaft, nachdem er sich kurz auch mal am Parkour versucht hat, sind Graffitis.
Wenn er nachts durch die Straßen streift, kann er die Wut in sich summen hören. Er fühlt sich frei und wild, alles, was sein Vater nicht ist. Er denkt in Bildern, nicht in Worten.
Ricky und Abby, die Eltern: Beide erinnern sich noch an die Nacht auf dem Rave in Morecambe, wo sie sich das erste Mal begegneten. Liebe auf den ersten Blick. Sie waren wie füreinander geschaffen und alles passte.
Northern Rock Building Society oder: Wie die Finanzkrise ihren Traum vom Eigenheim zunichte machte. Wäre Northern Rock nur einen Monat später kollabiert, wäre alles anderes gekommen. Abby weinte die gesamte Nacht, nachdem klar wurde, dass mit dem Kollaps ihr Kredit bei Northern Rock und damit ihr Haus weg war. Dieses Haus war ihr gemeinsames Haus, hier sollte ihr zweites Kind zur Welt kommen. Aber so sollte es jetzt nicht mehr sein. All’ das erscheint ihr wie in weiter Ferne, genauso wie die vielen Umzüge danach sie immer weiter verunsicherten. Manche Menschen träumen davon, beim Lotto zu gewinnen, Abby träumt davon, ihr eigenes Haus zu dekorieren. So wie sie es will und nicht irgendein Vermieter. Und niemals mehr umziehen müssen.
Ricky: Er hat eine große Energie, er will etwas erreichen, auch wenn er niemals wirklich den richtigen Platz für sich gefunden hat. Sein letzter Job war sein letzter Strohhalm. Er war als Landbau-Assistent tätig, er arbeitete doppelt so schnell wie sein Kollege, der dann befördert wurde. Das war es für ihn. Er schmiss hin. Er ist ein impulsiver Mann. Und er ist stolz darauf, niemals in seinem Leben auf Hilfe vom Staat angewiesen gewesen zu sein. Auf der Heimfahrt in einem Van voller Arbeiter nach einem harten Arbeitstag stellte er sich beim Dösen gerne vor, was aus seinen Kindern werden könnte. Er träumte davon, dass sein Sohn Seb in die Uni geht, gefolgt von seiner Tochter Liza Jane, ein paar Jahre später, als Klassenbeste. Sie wären die ersten in der Familie. Sie würden keine Schwielen an den Händen haben.
Abby hat Rickys unabhängige Seite immer bewundert. Sie wusste, dass hinter seinen oft übertriebenen Aussagen große Risikobereitschaft stand, sie sich aber gleichzeitig auf seine Loyalität verlassen konnte. Im Laufe der Zeit aber nervte all das aber mehr und mehr. Manchmal denkt er einfach nicht mehr klar, schaut einfach nicht mehr hin und verhält sich zu sprunghaft.
Mitgefühl ist ein mehr als wichtiger Teil von Abby. Woher kommt ihr großes Herz? Selbst die geistig kaum noch anwesenden Demenzerkrankten unter ihren Patienten können dieses Mitgefühl spüren, ihre zärtliche Wärme. In den letzten Monaten aber hatte sie das Gefühl, dass sie mehr Zeit in ‚anderen‘ Häusern verbringt als in ihrem eigenen. Wird das für den Rest ihres Arbeitsleben so sein? Wird es immer so knapp mit dem Geld sein, dass man keine andere Wahl hat?
Abby hasst Fluchen, Streit und Wut. Sie hat zu viel davon in ihrer Kindheit miterleben müssen.
Foto:
© Verleih
Info:
SORRY WE MISSED YOU
Regie KEN LOACH
Drehbuch PAUL LAVERTY
mit KRIS HITCHEN, DEBBIE HONEYWOOD, RHYS STONE, KATIE PROCTOR, ROSS BREWSTER, CHARLIE RICHMOND u.v.m.
Abdruck aus dem Presseheft