Pascal Bruckner
Paris (Weltexpresso) - Ihre erzählerische Entscheidung ist es also, Oberst Picquart zum Protagonisten zu machen. Zu der Zeit war dieser unverheiratete Mann – mit einer Mätresse (gespielt von Emmanuelle Seigner), die mit einem hohen Staatsbeamten verheiratet ist – ein sozialer Außenseiter und ein „natürlicher Antisemit“, in der Art, in der es die Menschen im späten 19. Jahrhundert häufig waren. Trotzdem ist er es, der unfreiwillig Hauptmann Dreyfus rettet.
Picquart ist ein faszinierender und komplexer Charakter. Er ist kein aktiver Antisemit. Er mag keine Juden, aber das kommt mehr aus einer Tradition als einer Überzeugung. Als SpionageabwehrOffi zier herauszufi nden, dass Dreyfus unschuldig ist, lässt ihm keine Ruhe. Er beschließt, die Wahrheit aufzudecken.
Als er seine befehlshabenden Offi ziere darüber informiert, wird ihm befohlen zu schweigen: Der Armee würden solche Fehler nie unterlaufen! Trotz des Fiaskos von 1870 ist die Armee, genau wie die Kirche, unantastbar. Sie schert sich nicht darum, ob Soldaten Reue empfi nden oder sich in einem moralischen Dilemma befi nden: Sie steht über Wahrheit und Gerechtigkeit.
Was brachte Picquart dazu, der offi ziellen Version zu widersprechen? Die Reinheit seiner moralischen Prinzipien oder der Gehorsam gegenüber dem Militärethos?
Im Film gibt es ein denkwürdiges Gespräch zwischen Picquart und Major Henry, seinem Hauptkontrahenten. Henry sagt darin: Sie befehlen mir einen Mann zu erschießen und ich tue es. Wenn sie mir danach sagen, sie haben sich im Namen geirrt, tut es mir leid, aber es ist nicht meine Schuld. So ist die Armee.“ Worauf Picquart antwortet: „So ist vielleicht Ihre Armee, Major, nicht meine.“ Dieser Austausch refl ektiert eine Realität, die heute noch immer relevant ist. Soldaten sind dazu verpfl ichtet, für ihr Land zu töten. Aber wenn dabei ein Verbrechen begangen wird, sind sie nicht dazu verpfl ichtet, es zu vertuschen.
Oberst Picquart befindet sich in einer ähnlichen Situation wie Dreyfus: Inhaftiert, seine Affäre enthüllt und von den extrem Rechten des Verrats beschuldigt.
Weil er sich dazu entschied, seinem eigenen Gewissen zu folgen sowie dem Bedürfnis, die Wahrheit zu kennen statt dem militärischen Ethos zu gehorchen. Es beginnt mit ersten Zweifeln, als er die Ähnlichkeit zwischen Esterhazys Schreiben und einer Mitteilung entdeckt, die aus der deutschen Botschaft entwendet worden war, dem berühmten „Bordereau“. Der Zweifel führt nach und nach zu einer Untersuchung. Picquart setzt diese fort – trotz der klaren Anweisung, dies zu unterlassen – und entdeckt weitere Beweise für Esterhazys Schuld. Je mehr er herausfi ndet, desto entsetzter ist er über das Ausmaß der Fehler.
Der Vater des Philosophen Emmanuel Levinas (1906-1995), ein litauischer Buchhändler, riet Levinas offenbar, nach Frankreich zu ziehen, und argumentierte, dass „ein Land, das sich über die Ehre eines kleinen jüdischen Hauptmanns auseinanderreißen kann, eines ist, zu dem sich eine rechtschaffende Person hin beeilen sollte.“
Das stimmt, zu dieser Zeit gab es Anti-Dreyfusards, aber es gab auch Dreyfusards! Und Dreyfus wurde schließlich für unschuldig befunden. So kommt Frankreich schließlich relativ gut aus der Affäre heraus, auch wenn der Fall erst nach zwölf Jahren gelöst wurde und das Land fast in einen Bürgerkrieg stürzte.
Eine Herausforderung wird es sein, die Geschichte auch jüngeren Menschen nahe zu bringen, die mit der Dreyfus-Affäre nicht so vertraut sind.
Als ich anfangs sagte, dass ich an der Dreyfus-Affäre arbeite, fanden das alle großartig. Aber ich merkte schnell, dass viele nicht wussten, was wirklich passiert war. Es ist eines dieser historischen Ereignisse, von denen jeder denkt, er wüsste darüber Bescheid, ohne sich der wahren Substanz bewusst zu sein.
In dieser Hinsicht ist der Film sehr lehrreich. Denn er ermöglicht es jedem, auch denen, die nichts über den Fall wissen, die politische und philosophische Herausforderung zu verstehen, vor der Picquart steht. Es ist fast eine polizeiliche Ermittlung.
Ich würde es sogar einen Thriller nennen! Die Geschichte wird gänzlich subjektiv erzählt. Das Publikum teilt jeden Schritt der Untersuchung mit Picquart. Und doch sind alle wichtigen Ereignisse authentisch, ebenso wie viele der gesprochenen Worte, weil sie aus den damaligen Aufzeichnungen stammen.
Eine weitere Sache, die mir im Film auffiel, war der miserable Zustand der damaligen französischen Spionageabwehr: Die Statistik-Einheit, in der Informanten Karten spielen und Alkohol trinken, der Portier halb schlafend, die unglückselige Überwachung und die maroden technischen Ressourcen können das moderne Publikum nur verwundern. Das ist eine Art Technologie-Schock im Vergleich zu dem, was wir heute über Spionageabwehr wissen.
Das ist ebenfalls authentisch und schien damals zweifellos modern. Es war die Zeit der ersten Autos, der ersten Telefone und Kodak Kameras! Auch hier war die Recherche von Robert Harris für sein Buch äußerst wertvoll. Andererseits brachte dieser technologische Hochmut einige Ermittler, wie den berüchtigten Experten Bertillon, dazu, grundlegende Fehler zu machen und sich dann zu weigern, diese zu revidieren.
Ein Beweisstück, das zunächst auf Dreyfus‘ Schuld hinweist und diese schließlich widerlegt, ist die Existenz des Bordereau.
Dabei handelt es sich um einen zerrissenen Brief, der aus dem Papierkorb im Büro des Militärattachés der Deutschen Botschaft entwendet wurde. Darin bot ein französischer Offi zier an, die Deutschen mit Informationen über militärische Geheimnisse zu versorgen – einschließlich des 120-mm-Geschützes. Die französische Armee reagierte sehr sensibel auf derartige Lecks, da sie ein neues Modell, die 75er Kanone, geheim hielt. Diese Waffe hatte einen rückstoßfreien Kanonenlauf, der entwickelt wurde, um den Aufprall des Schusses zu absorbieren, was einen bedeutenden Fortschritt darstellte.
Es gibt die Feindseligkeit der öffentlichen Meinung, von Major Henry, der Picquarts Platz einnehmen will, vom Militärstab und dann gibt es all jene, die Dreyfus helfen wollen, wie Émile Zola und Clemenceau.
Es war Zola, der den Fall ans Licht brachte mit seinem berühmten „J’accuse“ („Ich klage an“), einem Brief, der an den Präsidenten der Französischen Republik gesendet und in der Zeitung „L‘Aurore“ veröffentlicht wurde. Wer weiß, wie der Fall ohne diesen Brief ausgegangen wäre. Clemenceau spielte ebenfalls eine wichtige Rolle. Sieben Jahre nach der Affäre, als er selbst Premierminister war, ernannte er Picquart zum Kriegsminister. Zola zahlte einen hohen Preis für sein Engagement, er wurde zu einem Jahr Haft und einem Bußgeld von 3.000 französischen Francs verurteilt. Er starb am Rauch seines verstopften Kamins; einige Leute sagen, dass er von Anti-Dreyfusards ermordet wurde. Jedenfalls war Edouard Drumonts antisemitische Zeitung „La Libre Parole“ über die Nachrichten von Zolas Tod hocherfreut.
Foto:
© Verleih
Info:
Originaltitel J‘ACCUSE
Laufl änge 132 Minuten
Land/Jahr Frankreich, Italien 2019
FSK ab 12 Jahren beantragt
Kinostart 6. Februar 2020
Regie Roman Polanski
Buch Robert Harris, Roman Polanski
Nach dem Bestseller „Intrige“ von Robert Harris
Mit Jean Dujardin, Louis Garrel,
Emmanuelle Seigner, Grégory Ga
Abdruck aus dem Presseheft, das Interview ist im Heft ein Auszug