Zur Berlinale: Eine Konferenz ohne Thema eröffnet die Woche der Kritik 2020
Romana Reich
Berlin (Weltexpresso) - Was erhoffen sich Filmschaffende, -kritiker*innen und -liebhaber*innen heute vom Kino, was verärgert sie, was fordern sie? 2020 setzt die Woche der Kritik mit der Auftaktkonferenz ausdrücklich kein Thema, sondern lädt Bekannte und Unbekannte ein, ihre Anliegen vorzustellen, zu diskutieren und Verbündete zu suchen. Ob gegen rechts und Zensur oder für eine globale Cinephilie – es geht um Differenzierung, Solidarität und leidenschaftliche Auseinandersetzungen. Dabei soll nebeneinander stehen, was üblicherweise getrennt wird. Nicht zuletzt heißt das, zu reflektieren, was es bedeutet, ein Problem als das der „Anderen“ zu begreifen. Vor dem Hintergrund einer Berlinale, die sich unter neuer Leitung selbst finden muss, erforschen wir die uns umgebenden Dynamiken der Filmkultur.
Konferenz im Theaterdiscounter Berlin, Mittwoch, 19.02.2020 ab 18:00 Uhr
Filme und Debatten der Woche der Kritik vom 20.-27.02.2020 im Hackesche Höfe Kino, immer 20:00 Uhr
Die Konferenz ist so vielstimmig wie ihre Teilnehmer*innen. Ein kleiner erster Auszug bestätigter Gäste: Franz Müller setzt sich für eine Öffnung des deutschen Kinos gegenüber anderen Erfahrungswirklichkeiten ein, das Filmkollektiv Altyazi erzählt vom Engagement gegen Zensur und Selbstzensur, Girish Shambu tritt für eine neue linke Cinephilie ein, Evi Stamou, Aleksandra Milovanović, Branka Pavlović und Oliver Bassemir denken über politisches Kino im Zeichen seiner Entgrenzung nach, und eröffnet wird die Konferenz durch einen Workshop gegen rechte Einflussnahme aufs Kino.
Die Woche der Kritik entstand als Reaktion auf die blinden Flecken des Festivalbetriebs
Der Regisseur Franz Müller, einer der Herausgeber der Zeitschrift „Revolver“, verfasste kurz nach der letzten Berlinale einen Blogbeitrag über die Abkapselung des deutschen Kinos von anderen Erfahrungswirklichkeiten als denen der Filmemacher*innen selbst: „Ich habe eine Tendenz zur Abgeschlossenheit und Selbstbezogenheit erlebt, über die ich reden will. Vor allem im Sinne der gesellschaftlichen Klassen gibt es seit ein paar Jahren immer mehr mit sich selbst beschäftigte und anderen abgewandte Filme, und ich finde es schlicht schlimm, weil es abbildet, was mir ohnehin zu schaffen macht in einer Welt, die in immer mehr Erfahrungsbereichen von der kapitalistischen Software (mehr oder weniger sachte) gesteuert wird, die leider so gut auf unserer menschlichen Hardware läuft.“ Die Diskussion verebbte schnell – wir nehmen sie als Ausgangspunkt für eine Neubetrachtung filmischer Praxis in Deutschland.
Zu gefährlicher Sichtbarkeit und Sprechverboten
Vertreter*innen des Filmkollektivs Altyazi aus der Türkei fragen sich, was es dort mit dem Kino und der Politik auf sich hat. Im Selbstverlag erscheint alle zwei Monate ein Magazin für Filmkritik, die Gruppe organisiert Kinovorstellungen und Veranstaltungen, die das Selbstbewusstsein der unabhängigen türkischen Filmszene stärken sollen. Neben Wissensvermittlung geht es der Gruppe vor allem darum, Begegnungen zu ermöglichen – denn eine freie Filmkultur liegt gleichermaßen in der Verantwortung von Publikum, Lesenden und Produzierenden. Im Zentrum eines Werkstattgesprächs mit Senem Aytaç und Mitgliedern des Kollektivs steht die Frage, welche Rolle die Filmkritik in dieser Konstellation heute einnimmt sowie zukünftig einnehmen kann und muss – als Methode der Bewusstmachung und als gemeinschaftlicher Widerstand gegen Zensur und Selbstzensur. Welchen Einfluss haben die gesellschaftlichen Spannungen in der Türkei auf Kino und Kritik?
Zu einer neuen Cinephilie
Der amerikanische Filmkritiker und -blogger Girish Shambu schrieb kürzlich für das Magazin „Film Quarterly“ ein Manifest. Im Zentrum steht die Auslotung einer zeitgemäßen, linken Cinephilie. Shambu fordert die Anerkennung kritisch geschulter Bewegungen innerhalb der Filmkultur und distanziert sich von einer rein ästhetisch orientierten, autorenbasierten (sic!), apolitischen Filmliebe: „You shall know the old cinephilia by the sounds of its worrying: film culture these days is “too PC,” too “morality driven,” and “all about identity politics.” Supposedly (...) the community of cinema lovers is no longer unified the way it once (allegedly) was. For the new cinephilia, however, this unity of film culture is a figment of nostalgic fantasy, a fiction propagated and sustained by the imposition of a false universalism.“
Zur Entwurzelung
Ein Raum ist dem entgrenzten Kino gewidmet: Die Filmemacherin und Videokünstlerin Evi Stamou repräsentiert das Kollektiv „Balkan Can Kino“ aus Athen und berichtet, welche Möglichkeiten der selbstorganisierte Kinobetrieb bietet. Aleksandra Milovanović (University of Arts, Belgrad) und Branka Pavlović (Filmemacherin, Videokünstlerin) fragen sich mit wissenschaftlichem Handwerkszeug, wie das „Free Zone Belgrade Human Rights Film Festival“ zwischen zentralen und dezentralen Formen von Filmfestival-Betrieb über 15 Jahre eine aktivistische Position erarbeitet und ausgeprägt hat. Der Videokünstler Oliver Bassemir bringt aus Hamburg seine „Cineastische Keimzelle“ mit: Unter diesem Titel fragt er sich in regelmäßigen Filmprogrammen, was der Begriff „politische Architektur“ für einen Kinosaal bedeutet.
Zum Kino und den Rechten
Vor der Konferenz ist nach der Konferenz. Bevor wir beginnen, stellen wir mit Akteur*innen der politischen Kinokultur einen Workshop auf. Es soll um eine Frage gehen, die während der Erarbeitung der Konferenz wieder und wieder in Erscheinung trat und die zentral bleiben wird: Wie greift rechtskonservative und rechtsextreme Parteipolitik hier und jetzt in die Kinokultur ein? Wie kann Einflussnahme sichtbar werden? Welche Akteur*innen spielen hierfür eine Rolle? In welcher ästhetischen Praxis und Arbeitsmethodik formulieren sich Widerstände? Wir bündeln die dringlichsten Gedanken, die uns erreichten, es bilden sich Arbeitsgruppen. „Cinema plural“ stellt Räume zur Verfügung, um Initiativen zu gründen, Impulse auszuarbeiten und festzuhalten, Zusammenschlüsse zu ermöglichen. Das erste Bühnengespräch des Abends ist der Präsentation und Diskussion der Ergebnisse gewidmet. Vielleicht wird dann klarer, was das heißt: Film gegen rechts.
Die Konferenz zur 6. Woche der Kritik findet am 19. Februar ab 18 Uhr im Theaterdiscounter Berlin statt. Der Workshop zum Widerstand gegen rechte Einflussnahme auf das Kino beginnt ab 15:30 Uhr und richtet sich an ein Fachpublikum. Für Letztere wird die vorherige Anmeldung und Entscheidung für einen Arbeitsschwerpunkt im Vorfeld erbeten.
Zum Plakativen
Die Woche der Kritik hat sich für die Posterkampagne wieder ein Bild aus einem Film entliehen, um ihn jenseits des Kinosaals neu zu betrachten. Die Ausgestoßene aus Brian De Palmas „Carrie“ (1976) gerät in eine unerwartete Symmetrie, als ob sich das Andere des Films selbst anschaut. Spätestens seit es Horrorfilme gibt, tritt das Unterbewusste der Kultur regelmäßig effektgewaltig an die Oberfläche und wirft die Frage auf, welche Kräfte denn ursprünglich zu dessen Unterdrückung beigetragen haben. Wir hoffen, dass die Wahrheit im Kino ans Licht kommt.
Die Gestaltung der visuellen Kampagne der Woche der Kritik verantwortet 2020 Kai Bergmann (bergmannstudios.de, Instagram: @_kaibergmann). Die grafische Identität der Woche der Kritik wurde 2016 von Kai Bergmann und Matthias Neumann (studio.vonMatthias.de, Instagram: @vonmatthias.de) erarbeitet.
Foto:
© 2020 VdFk e.V.
Info:
Die Woche der Kritik ist eine Veranstaltung des Verbands der deutschen Filmkritik, gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds und die Stiftung Kulturwerk der VG Bild-Kunst. Die Eröffnungskonferenz findet in Zusammenarbeit mit dem Theaterdiscounter Berlin statt.