70 Jahre Berlinale
Kirsten Liese
Berlin (Weltexpresso) - Wenn man bedenkt, dass die Berlinale ihren 70ten Geburtstag feiert, wirkt das Festival doch merkwürdig glanzlos. Das zeigt sich zum einen schon an einer höchst unglücklichen Infrastruktur: Am Potsdamer Platz ist jedenfalls tote Hose, wie man so sagt. Die Arkaden mit Geschäften, Cafés und Restaurants nahe dem Berlinale-Palast werden ausgerechnet jetzt gerade umgebaut und eröffnen erst wieder im April, außerdem befindet sich das Sonycenter im Umbau, und auch im U-Bahnhof Richtung Zoo wird gebaut, so dass man erst eine Station in die entgegengesetzte Richtung fahren muss, um in die gewünschte umzusteigen.
Das bringt insbesondere zu später Stunde nach knapp dreistündigen überlangen Filmen, wo jeder möglichst schnell in sein Bett will, Verdruss mit sich. Man fragt sich, wie es sein kann, dass sich eine Stadt so verheerend schlecht für ein so renommiertes Festival rüstet.
Vor allem viele auswärtige Gäste fragen sich, wo sie sich zwischen den Filmen aufhalten sollen, wenn ihr Hotel nicht gerade fußläufig um die Ecke liegt, zumal in Ermangelung von Sponsoren seit 2019 auch die Golden Bear-Lounge im Hyatt wegfällt. Mithin also drängelt sich alles in bescheidenen Lokalitäten in den Nebenstraßen, die auf den riesigen Ansturm nicht vorbereitet sind und von denen einige kurzerhand auf Selbstbedienung umgestellt haben. Wer wenig Zeit hat, ist da schlecht aufgehoben, angesichts langer Warteschlagen muss man viel, viel Zeit mitbringen.
Leider bringt auch die neue sogenannte Journalisten-Lounge, die das frühere Schreibzimmer im Hotel Hyatt ersetzt, keinen Mehrwert. Dort finden sich nur wenige Computer und noch nicht einmal ein Kaffeeautomat. Bei alledem bringt diese wenig attraktive Stube weitere, unnötige lästige Wege mit sich, die man sich bei dauerhaft schlechtem Wetter gerne erspart hätte.
Der mit dem Wechsel in der Festivalleitung erhoffte frische Wind bleibt ebenfalls aus. Irgendwie läuft alles weiter wie in der Ära Kosslick. Man entdeckt im Wettbewerb wenig Exzeptionelles, viel Mittelmaß und viel Entbehrliches, nur dass die Filme noch immer länger werden.
Über etliche lohnt es sich gar nicht zu schreiben, also konzentrieren wir uns auf diejenigen, die es wert sind:
Nicht zufällig hat sich inzwischen eine kleine Independent-Produktion aus den USA mit dem Titel „Never Rarely Sometimes Always“ als Favorit ins Gespräch gebracht. In dieser leisen, subtilen, berührenden Geschichte geht es um eine 17-Jährige namens Autumn, die ungewollt schwanger geworden ist und abtreiben will. Da sie es sich – vermutlich aus guten Gründen- nicht traut, ihren Eltern mitzuteilen, sucht die junge Frau Wege, ihr Vorhaben möglichst unauffällig zu erledigen und begibt sich dafür, zusammen mit ihrer ihr Beistand leistenden Cousine von Pennsylvania nach New York. Ein kleines bisschen erinnert der Film in dieser Konstellation an das preisgekrönte rumänische Drama „Vier Monate, drei Wochen, zwei Tage“, nur dass in Amerika für Jugendliche immerhin noch Frauenschutzbeauftragte als Anlaufstelle zur Verfügung stehen. Im Büro einer solchen ereignet sich die stärkste Szene in diesem fast dokumentarisch wirkenden Film: Die Schutzbeauftragte stellt Autumn intime Fragen zu sexuellen Übergriffen und Gewalt, auf die sie jeweils antworten soll, inwiefern die nachgefragten Erfahrungen auf sie zutreffen: oft, seltener, niemals oder immer. Hauptdarstellerin Sidney Flanigan wirkt in dieser Szene sagenhaft authentisch in einem Gemisch aus Unsicherheit, Scham und Ehrlichkeit. Ein Bär für die beste Regie wäre jedenfalls bei diesem Film nicht zu hoch gegriffen.
Es gab bislang nur noch einen anderen Film, der aus meiner Sicht den Wettbewerb überragte: „Schwesterlein“, das berührende, subtile, anspruchsvolle Drama der Schweizerinnen Stéphanie Chuta und Véronique Reymond.
Nina Hoss und Lars Eidinger, die zusammen an der Berliner Ernst Busch Schule studierten und an der Berliner Schaubühne eine künstlerische Heimat fanden, stehen hier erstmals gemeinsam vor der Kamera. Ein großer Reiz des Films liegt darin, dass sich in der Geschichte Fiktion und Realität auf raffinierte Weise berühren.
Eidinger verkörpert einen Star-Schauspieler der Schaubühne, der im Film Sven heißt und schwer an Krebs erkrankt ist, - und Thomas Ostermeier sein Alter Ego als Schaubühnen-Intendant und Regisseur namens David. Nur Hoss ist im Film keine Aktrice, sondern die um ihren Zwillingsbruder kämpfende Bühnen-Autorin Lisa.
Sie hat ihm Knochenmark gespendet und nimmt ihn mit in ihr Zuhause in die Schweizer Provinz, weil ihre Mutter (noch eine Größe im Theater: Marthe Keller) nicht in der Lage ist, für den Sohn zu sorgen. Aber damit beginnen die Probleme erst, leidet doch Lisas Ehemann, mit dem sie zwei kleine Kinder hat, darunter, dass sie sich soviel um den Bruder kümmert und darüber die Familie vernachlässigt. Lisa wiederum enttäuscht der wachsende Egoismus ihres Mannes, der seinen Vertrag für die Leitung einer renommierten Schweizer Privatschule ohne ihre Zustimmung für fünf Jahre verlängert. Während es in der Ehe zunehmend kriselt, erfährt der moribunde Sven, dass die Transplantation nicht den gewünschten Erfolg erbracht- und David die geplante „Hamlet“-Premiere mit ihm, die für seinen Lebensmut so wichtig gewesen wäre, abgesetzt hat.
Wäre es tatsächlich obszön, einen Schauspieler auf der Bühne sterben zu lassen, wie der Regisseur alias Ostermeier seine Entscheidung Lisa gegenüber verteidigt? „Ein Schauspieler will nicht provozieren, sondern begehren und begehrt werden“, findet das Schwesterlein, das im Zuge dieser Auseinandersetzung immer mehr zur fulminanten Einzelkämpferin wird.
Für den geliebten Bruder wird sie einen letzten großen Monolog schreiben, den er vermutlich nie halten wird. Aber darauf kommt es nicht an. Der Text ist ein Liebesbeweis und das Letzte, was sie für ihn tun kann. Das alles wirkt ungemein bewegend, glaubwürdig, intim und feinsinnig. Da sitzt jeder Satz, da stimmt jedes Detail, werden die mit dem wunderschönen Brahms-Duett „Schwesterlein“ eingeleiteten hohen Erwartungen im Vorspann, gesungen von den Jahrhundertsängern Fischer-Dieskau und Elisabeth Schwarzkopf, absolut eingelöst. Mithin müsste es schon mit dem Teufel zugehen, wenn dieser Film bei der Preisverleihung leer ausgehen sollte. Für mich ist es der Anwärter für den Goldenen Bären.