Bildschirmfoto 2020 02 29 um 01.00.0670. Berlinale vom 20. 2. - 1. 3.2020, WETTBEWERB, Teil 19/18

Claudia Schulmerich

Berlin (Weltexpresso) – Das war nicht vorgesehen, aber wenn schon die erste Episode des zweieinhalb Stundenfilms einen so beschäftigt, mehr als irritiert, muß halt ein zweiter Teil der Besprechung des iranischen Film her, dessen Besonderheit war, daß der Platz des Regisseurs Mohammad Rasoulof auf dem Podium leer bleiben mußte, weil er nicht nach Berlin kommen durfte und schon froh ist, nicht mehr im Gefängnis zu sitzen.

Bildschirmfoto 2020 02 29 um 01.00.29Wie viel er von Gefängnissen versteht und auch vom Militärdienst, ist in den drei folgenden Episoden zu erkennen, von denen elliptisch die zweite in der vierten ihre Runde vollendet. Nehmen wir also die dritte, die für sich selbst steht, vorneweg. Wir sehen einen jungen Mann, Javad, auf dem rechten Foto,  aufs Land fahren, in die unendlichen Weiten Persiens, diese Sandlandschaften und Berge, dann mitten ins Grün, wo er seine Sachen versteckt und in einem kleinen Häuschen angekommen, sofort von der entdeckt wird, deretwegen er mit einem Verlobungsring im Gepäck angekommen ist: Nana (Mahtab Servati).

Wir schließen, aha, er hat die Dame seines Herzens aufgesucht, ist dafür einen weiten Weg gekommen und hat als Rekrut für drei Tage Urlaub bekommen, weil er sich für eine ungeliebte Aufgabe zur Verfügung gestellt hatte. Nun wird er warm willkommen geheißen, vom Vater, der Mutter, der zukünftigen Braut, dem Bruder, aber es ist gerade ein Freund der Familie nicht nur gestorben, sondern durch die Schergen des Regimes offiziell gehenkt worden. Lassen wir es bei der Ahnung, was er damit zu tun hat, auf jeden Fall ist die junge Frau bemüht, ihrer Familie für den Geburtstagstag heile Welt vorzuspielen, aber danach muß er - trotz ihrer Liebe zu ihm – für immer gehen.

In der Pressekonferenz wird dann zum Thema räsoniert, ob und wann Soldaten für Exekutionen vorgesehen, also auch verpflichtet werden konnten. Es gab die Praxis, derzeit wird sie nicht angewandt, aber ein Film wie dieser ist sowieso kein Dokumentarfilm, sondern könnte auch fiktiv damit umgehen. Kommen wir zum Eigentlichen, was die vier Teile zusammenhält. Es geht nicht nur um Todesstrafe, die man persönlich vollstrecken soll, das ist sozusagen die äußerliche schreckliche Vorgabe, es geht um die persönliche Verantwortung, welche Taten man sich aufdrängen läßt oder sogar sie für Vorteile benutzt, und wo ein entschiedenes Nein, unbelastet von persönlichen Konsequenzen, den Menschen zumindest nicht moralisch straucheln läßt. Es geht um Schuld, die man auf sich lädt, weil man nicht Nein gesagt hatte.

Ich hatte die Episoden über stetig das Gefühl, einem griechischen Drama zu folgen, wo die Menschen und Halbgötter immer wieder schuldlos schuldig werden und erst die Katharsis ihnen Reinigung und Entlastung bringt. Es geht also um viel, wenn hier kleine Leute wie Soldaten und Leute wie Honigsammler auf dem Land die Hauptrolle spielen.

Kurz die zweite und vierte Episode. In der zweiten erleben wir das Drama mit, daß ein junger Soldat Salar (Salar Khamse) außerstande ist, was von ihm verlangt wird, nämlich das Urteil eines Todeskandidaten zu vollstrecken. Er wird von seinen Kameraden als Memme bezeichnet, ruft dauernd seine Freundin Tahmineh (Darya Moghbeli) an, und auch wenn wir ihn verstehen, wird er doch etwas als schwacher Mann dargestellt. Doch plötzlich sagt er, ja ich mach‘s, wird zum Diensthabenden gebracht, wohin auch der Exekutionskandidat gelangt, ihm wird schlecht, sagt er, so sieht er auch aus, geht auf die Toilette und dann schlagartig verändert sich alles.

Er ergreift das Gewehr des Diensthabenden, sperrt den ein, findet nach einem Plan nach draußen, wo seine Freundin in einem Wagen wartet und beide unter Absingen von BELLA CIAO, BELLA CIAO vergnügt in ihre freie Zukunft fahren. Eine hinreißende Szene, die sie erst in die Berge, dann ins Ausland führt. Schnitt.

In der vierten Episode holt ein Ehepaar Bahram (Mohammad Seddighimehr)  und Zaman (Jila Shahi) ein junges Mädchen am Flughafen ab, die Tochter des besten Freundes des Mannes, der in Deutschland im Exil lebt: Darya (Baran Rasoulof, die in Deutschland lebende Tochter des Regisseurs, die später sagen wird, daß die Geschichte nicht völlig die eigene widerspiegelt, aber doch viel davon). In Telefongesprächen mit Deutschland ist immer wieder die Rede davon, daß er mit dem Mädchen etwas bereden will, was ihm wohl schwerfällt, aber dringlich ist, weil er weiß, daß er todkrank ist. Seine Frau, eine Bildhauerin, mit der er erst seit 10 Jahren lebt, unterstützt ihn stark, kann ihm aber bei seinem Schweigen nicht helfen.

Wir ahnen längst, was Sache ist, denn Regisseur Rasoulof will uns nicht vorführen und sich selbst als Geheimnisträger outen, der seine Funktion als Regisseur mißbraucht, Geheimnisse am Schluß aus dem Hut zu zaubern. Nein, er läßt uns unsere, nicht falsche Assoziation, aber erst dann gibt es eine Verbindung zur 2. Episode, die einen umhaut. Buchstäblich. Großes Drama. Es hilft nur Aufklärung von Anfang an und die Notwendigkeit für jeden Menschen, sich in allen Lebenslagen seiner Verantwortung bewußt zu sein – und eben den Mut aufzubringen, an den richtigen Stellen NEIN zu sagen.

Ein umfangreicher, die Gefühlsskalen hoch und runtertreibender Film, der einen auch nach dem Schauen noch umtreibt, denn es müssen ja nicht die ganz großen Geschichten von Todesstrafe und eigener Verantwortung sein. Es langt, im eigenen Leben die Verantwortung für sich zu übernehmen und Ja und Nein zu sagen. Das paßt für Frauen ja sowieso in die Zeit, aber hier gilt es geschlechtsneutral. Das NEIN ist angesagt.

Foto:
Onkel und heimlicher Vater mit Tochter
© Verleih

Info:
Stab

Regie, Buch Mohammad Rasoulof
Kamera Ashkan Ashkani

Besetzung
Ehsan Mirhosseini (Heshmat)
Shaghayegh Shourian (Razieh)
Kaveh Ahangar (Pouya)
Alireza Zareparast (Hasan)
Salar Khamseh (Salar)
Darya Moghbeli (Tahmineh)
Mahtab Servati (Nana)
Mohammad Valizadegan (Javad)
Mohammad Seddighimehr (Bahram)
Jila Shahi (Zaman)
Baran Rasoulof (Darya)

Der abwesende Mohammad Rasoulof, der im Iran keine Ausreise nach Deutschland bekam
Bildschirmfoto 2020 02 28 um 23.49.21Geboren 1972 in Schiras, Iran. Während seines Soziologiestudiums begann er, Dokumentar- und Kurzfilme zu drehen. Nach seinem zweiten Film, Iron Island, wurden seine Möglichkeiten, Filme zu machen und zu zeigen, immer weiter eingeschränkt. Alle sieben Langfilme fielen im Iran der Zensur zum Opfer. 2010 wurde er bei der Zusammenarbeit mit Jafar Panahi am Set verhaftet und zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt. Für seine Arbeit erhielt er zahlreiche internationale Auszeichnungen, u. a. mehrere Preise in der Reihe Un Certain Regard in Cannes. Seit 2017 darf er den Iran offiziell nicht mehr verlassen.

Filmografie
2002 Gagooman (The Twilight); Dokumentarfilm 2005 Jazireh ahani (Iron Island) 2008 Bade dabur (Head Wind (The Dish)); Dokumentarfilm 2009 Keshtzarhay e sepid (The White Meadows) 2013 Dastneveshtehaa nemisoozand (Manuscripts Don't Burn) 2017 Lerd (Man of Integrity) 2020 Sheytan vojud nadarad (There Is No Evil)

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