wpo 2020 0074 RWD 775Abschluß der 70. Berlinale 2020

Hanswerner Kruse

Berlin (Weltexpresso) - Der Goldene Bär für den Film „Es gibt kein Böses“, der als letzter im Wettbewerb gezeigt wurde, war aufgrund seiner cineastischen Qualität keine Überraschung. Ansonsten gingen - wie immer - ein paar Silberbären an Filmschaffende, die zuvor im „Bärenorakel“ der Profi-Kritiker mächtig gefeiert wurden, andere Entscheidungen waren dagegen umstritten.

In der Pressekonferenz zum Festivalbeginn erzählten alle Mitglieder der Internationalen Jury von beeindruckenden Filmerlebnissen in Kindheit und Jugend. Sie sprachen über „Bambi“, „E.T.“ oder Charlie Chaplin und waren sich einig, Filme sollten „von Herzen mit Leidenschaft“ gemacht werden. An diesen Ansprüchen können sich ihre Entscheidungen messen lassen.

Für den Gewinner des Hauptpreises, den iranischen Regisseur Mohammed Rasoulof, gelten diese Jury-Wünsche allemal. Er bekam keine Ausreisegenehmigung und durfte, wie bereits andere iranische Regisseure vor ihm, nicht am Festival teilnehmen. Allerdings erhielt der Streifen den Goldenen Bären nicht als politische Demonstration. Sein Film ist wahrlich „von Herzen mit Leidenschaft“ erarbeitet, sowie gemessen an anderen Beiträgen des Wettbewerbs ein cineastisches und thematisches Meisterwerk.

In vier Episoden zeigt „Es gibt kein Böses“ wie Menschen schuldig werden und damit umgehen müssen. Vordergründig geht es um die Todesstrafe „überall in der Welt“, betonte einer der Produzenten. Aber wie bei vielen iranischen Kunstschaffenden ist diese Verallgemeinerung ein Kniff, um noch stärkeren Drangsalierungen im Land zu entgehen: Kritik an Maßnahmen der Mullahs wird nicht direkt geäußert, sondern weltweit angeprangert.


202007198 1Sicherlich sind die mit Silberbären ausgezeichneten Darsteller im Vergleich die besten Akteure. Oft stehen sie aber auch, gleichsam als „pars pro toto“, für großartige Werke. So der italienische Schauspieler Elio Germano für die spannend und einfühlsam erzählte Lebensgeschichte des Outsider-Künstlers Ligabue („Hidden Away“).

202011035 1Oder die, derzeit mächtig durchstartende Paula Beer als magische Undine in einer entzauberten Welt im gleichnamigen deutschen Beitrag „Undine“. Beide Werke sind „von Herzen und mit Leidenschaft“ gemacht - und wie viele andere im und außerhalb des Wettbewerbs dennoch politisch, wenn man das Politische so erweitert, wie die Berlinale. Häufig aufgegriffene Themen wie Abtreibung, Gender oder Migration waren und sind ja allemal politisch. Doch der künstlerische Leiter Carlo Chatrian fasste das Politische noch weiter: „„Für mich ist Kino dann politisch, wenn ein Film sein Publikum dazu auffordert, die eigene Sichtweise zu ändern.“

Die Beiträge in sämtlichen Sektionen der Berlinale, nicht nur im Wettbewerb, bilden die große Diversität des zeitgenössischen Kinos ab, verändern Perspektiven der Wahrnehmung und fanden alle ihr Publikum. Hervorragendes Kino gab es auch in den anderen Sektionen, manche Arbeiten hätten ebenfalls Bären verdient. Etwa der berührende Film „Saudi Runaway“ einer jungen,zwangsverheirateten saudi-arabischen Frau, die ihre Flucht in iPhone-Videos festhielt. Oder der Streifen „Persian Lessons“, in dem ein Jude das Konzentrationslager überlebt, weil er sich als Perser ausgibt. Er bringt einem SS-Führer, der nach dem Krieg in Teheran leben will, eine selbst erfundene Sprache als persisches Farsi bei.

Die 70. Berliner Filmfestspiele wurden durch den derzeit umgebauten und dadurch unwirtlich gewordenen Potsdamer Platz und den Wegfall des großen Premierenkinos CineStar im nahe gelegenen Sony Center, erheblich beeinträchtigt. Behutsame setzte die neue Leitung kleine organisatorische und inhaltliche Verbesserungen durch, betonte aber unermüdlich: „Wir wollten und wollen am Festival nichts reduzieren, da wir auch den Wunsch nach Kino für ein großes Publikum befriedigen müssen", sagte Chatrian und Rissenbeek ergänzte: „Wir würden das Publikum missachten, wenn man eine sehr kleine Berlinale machen möchte.“ (Mariette Rissenbeek)

Einzelne Wettbewerbsbeiträge:
 
Unterschätzt
Die spannende Umsetzung von Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ wurde unterschätzt. Der Film verlegt die Handlung in die Gegenwart und lässt einen Migranten, der ein guter Mensch werden will, genauso scheitern wie den Franz Biberkopf in der Romanvorlage. Fantastische Bilder, große Gefühle, dramatische überraschende Wendungen und hervorragende Darsteller zeigen großes Kino.

202003211 1Berührend
Zu wenig gewürdigt wurde auch der schweizerische Beitrag „Schwesterchen“ in dem Nina Hoss ihrem totkranken Bruder Lars Eidinger unterstützt und dabei ihre scheinbar heile Familie infrage stellt. Da beide Darsteller auch in der Berliner Schaubühne arbeiten, die ebenfalls im Film vorkommt, changiert der berührende Streifen zwischen Realität und Fiktion.

Skandalös
Der russische Regisseur Ilya Khrzanovskiy stellte in „DAU. Natasha“ - mit erheblicher finanzieller Unterstützung eines Oligarchen - ein einst geheimes stalinistisches Forschungsinstitut mit Laiendarstellern nach. Abgeschieden von der Welt verschwammen hier monatelang die Grenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit. Nur durch den unbewiesenen und vagen Vorwurf weiblicher Unterdrückung, wurde der interessante Film als Skandal denunziert.

Humorvoll
Der Silberbär für einen innovativen Film, bisher benannt nach dem umstrittenen ersten Berlinale-Leiter Alfred Bauer, wurde in einen „Sonderpreis zum 70. Festival“ umgewidmet. Mit einem Geniestreich wählte die Jury die einzige Komödie im Wettbewerb, die hinreißende französische Internet-Satire „Delete History“ aus.

202012290 1Fragwürdig
Warum der schlicht erzählte Film „Never Rarely. Sometimes Always“ einen Silberbären erhielt und von den Kritikern bejubelt wurde, bleibt ein Geheimnis. Er erzählt fast emotionslos die Geschichte der siebzehnjährigen Autumn, die mit ihrer Cousine von Pennsylvania nach New York fährt, um dort eine Abtreibung ohne Einwilligung ihrer Eltern vornehmen zu lassen. Ein wichtiger Film für Männer, um Probleme eines Schwangerschaftsabbruchs zu begreifen.

Fotos von oben nach unten:
Die Tiochter von Regisseur Mohammed Rasoulof  (c) Piero Chiussi / Berlinale 2020
Elio Germano in "Hidden Away" (c) Chico De Luigi
Paula Beer in "Undine" (c) Christian Schulz/Schramm Film
Nina Hoss und Lars Eidinger in "Schwesterchen" (c) Vega Film
Sidney Flanigan in „Never Rarely. Sometimes Always“ (c) 2019 Courtesy of Focus Features