Kirsten Liese
Berlin (Weltexpresso) - Es kam in den vergangenen Jahren nicht allzu oft vor, dass der beste Film den Goldenen Bären gewann. Umso erfreulicher, dass die Berlinale in ihrem 70. Jahr immerhin auf eine Jury setzen konnte, die aus dem insgesamt doch recht schwachen Wettbewerb die wenigen Perlen herausgefischt hat. - Auch, wenn es auf den ersten Blick so aussehen mag, dass der iranische Gewinnerfilm „Es gibt kein Böses“ aus politischen Gründen favorisiert wurde wie so oft in den Vorjahren.
Zweifellos ist er getragen von fundamentaler Regimekritik und einer klaren Botschaft: Es geht um Zivilcourage in einem totalitären Staat, das sich-Verweigern am Töten, sei es Mensch oder Tier. Aber die Umsetzung der in vier Episoden unterteilten Erzählung wirkt hier mindestens ebenso stark: bewegend, wortgewaltig und ungemein abwechslungsreich, mal leise, mal schockierend oder auch spannend wie ein Thriller.
Da ist der Gefängnisangestellte, dem man lange in seinem Alltag zusieht, wie er eine Katze rettet, seine Frau von der Arbeit- und die Tochter von der Schule abholt, und nachts exekutiert er per Knopfdruck verurteilte Dissidenten.
Dagegen steht der von Gewissensbissen geplagte junge Soldat, der alles dransetzt, sich einem Tötungsbefehl zu widersetzen. Eine Diskussion mit seinen abgestumpften Kameraden hilft ihm nicht weiter, aber als er den zum Tode Verurteilten auf seinem letzten Gang begleitet, reißt er einem Wächter plötzlich das Gewehr aus der Hand und startet in einer spektakulären Aktion seine Flucht aus der Kaserne.
Einen anderen Soldaten überkommt Reue, als er erkennt, dass er einen Mann gehenkt hat, um den seine Freundin, mit der er sich gerade verloben wollte, trauert.
In der letzten Episode lüftet ein Mann in einer gebirgigen Einöde einer aus Deutschland angereisten Iranerin sein lang gehütetes Geheimnis, dass er nicht ihr Onkel, sondern ihr leiblicher Vater ist. Er ließ sie nach Deutschland bringen, damit sie eine bessere Zukunft haben sollte als er, der ohne Erlaubnis als Arzt heimlich im Versteck arbeitet, weil ihn sein ziviler Ungehorsam in der Militärzeit, in der er die Vollstreckung einer Exekution verweigerte, existenziell ruiniert hat. Es ist dies zugleich die persönlichste Episode, in der sich in Anflügen die Familiensituation des Regisseurs Mohammad Rasoulof widerspiegelt. Seine Tochter, die selbst in Hamburg lebt und den Goldenen Bären für ihn entgegennahm, spielt in ihre die Hauptfigur, und sie konfrontierte auch in Wirklichkeit ihren Vater, der wie sein bekannter Landsmann Jafar Panahi einem Reiseverbot unterliegt und zur Berlinale nicht kommen durfte, mit der Frage, ob nun seine Überzeugung oder seine Familie ihm wichtiger sei. Der Film ist seine Antwort.
Sehr zu begrüßen ist ebenfalls der Silberne Bär für „Never Rarely Sometimes Always“ (Großer Preis der Jury) von Eliza Hittman. In dieser leisen, subtilen, berührenden Geschichte geht es um eine 17-Jährige namens Autumn, die ungewollt schwanger geworden ist und abtreiben will. Da sie sich nicht traut, mit ihren Eltern darüber zu reden, sucht die junge Frau Wege, ihr Vorhaben möglichst unauffällig zu erledigen und begibt sich dafür, zusammen mit ihrer ihr Beistand leistenden Cousine von Pennsylvania nach New York. In der stärksten, auf den Titel anspielenden Szene dieses dokumentarisch anmutenden Dramas, stellt eine Frauenschutzbeauftragte Autumn sehr einfühlsam intime Fragen. Wie oft hat sie Übergriffe und Gewalt beim Sex erlebt: niemals, selten, manchmal oder immer? Hauptdarstellerin Sidney Flanigan meistert diesen Dialog sagenhaft authentisch in einem Gemisch aus Unsicherheit, Scham und Ehrlichkeit.
Ebenso einfühlsam, wenngleich noch minimalistischer erzählt der mit dem Regie-Preis ausgezeichnete Koreaner Hong Sangsoo von drei Frauen in seinem Beitrag „Die Frau, die rannte“. In einer der schönsten Szenen dieser kontemplativen Studie klingelt ein Nachbar bei einer der Protagonistinnen und beschwert sich darüber, dass sie und ihre Mitbewohnerin eine streunende Katze füttern. Darüber entspinnt sich ein Streitgespräch über das Verhältnis von Mensch und Tier, das mit einer wunderbaren Pointe endet, bei der die Katze selbst das Wort hat.
Jury-Präsident Jeremy Irons ließ in seinen Bemerkungen auf der Abschlussgala durchaus anklingen, dass es unter den Juroren viel Streit gegeben habe, und man hat den Eindruck, dass er sehr souverän seinen guten Geschmack durchgesetzt hat. Die überambitionierte Romanadaption „Berlin Alexanderplatz“, die Presse und Publikum polarisierte, hatte bei ihm keine Chance.
Eine Preisverleihung ganz ohne einen Bären für eine deutsche Produktion wollte der britische Gentleman dem größten deutschen Filmfestival gleichwohl nicht zumuten. Das erforderte angesichts der Schwäche beider Beiträge einen Kompromiss. Paula Beer, wenngleich ziemlich eindimensional als Petzolds „Undine“ und weit entfernt von den Qualitäten einer Nina Hoss, war da sicherlich noch am verträglichsten für den weiblichen Darstellerbären. Den Bären für den besten männlichen Darsteller gewann verdient Elio Germano, der die diffizile Rolle des verhaltensgestörten Malers Antonio Ligabue in „Hidden Away“ glaubwürdig meisterte.
Dass auch um den Silbernen Bären für eine „herausragende künstlerische Leistung“ an den deutschen Kameramann Jürgen Jürges in dem russischen Film „DAU.Natasha“ sehr gestritten wurde, lässt sich denken. Angesichts langer, substanzloser Dialoge und Szenen mit pornografischen Anflügen sowie Gewaltexzessen muten dem Zuschauer über knapp drei Stunden Laufzeit schon allerhand zu. Allerdings verdienen die atmosphärischen Bilder und Einstellungen, die das Leben in der Kantine eines geheimen sowjetischen Forschungsinstituts illustrieren, bevor es richtig unappetitlich wird, tatsächlich Beachtung.
Foto:
Drei Gewinner
l.Elio Germano mit dem Silbernen Bären, die Tochter des Regisseurs Rasoulof mit dem Goldenen Bären, Paula Beer mit dem Silbernen Bären
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