Bildschirmfoto 2020 04 12 um 08.51.58Die Berlinale-Retrospektive im Lichte der Corona-Krise

Claus Wecker

Berlin (Weltexpresso) - Die Kinos haben geschlossen, schlechte Zeiten also für alle Freunde der großen Leinwand und des gemeinsamen Filmschauens. Wenn neue Filme nur noch zum vereinzelten Konsum im Internet zur Verfügung stehen, lohnt sich ein Blick zurück auf die bewährten Klassiker. Zum Beispiel auf die Werke des Texaners King Vidor (1849–1982), der eine ganze Reihe von diesen inszeniert hat und zudem unter jüngeren Filmbegeisterten weithin unbekannt ist (oder kennt jemand von ihnen THE CROWD, THE BIG PARADE oder OUR DAILY BREAD?). Ihm war die Retrospektive der 70. Berlinale in diesem Jahr gewidmet.

Zu seinen auch heute noch einigermaßen populären Regiearbeiten zählt das spektakuläre Western-Melodram DUEL IN THE SUN (1946), mit dem David O. Selznick den Erfolg von 1939 mit GONE WITH THE WIND übertreffen wollte. Die Zusammenarbeit der beiden Hollywood-Legenden war allerdings problematisch. Produzent und Drehbuchautor Selznick tüfftelte des Nachts gerne an den Dialogen herum und erschien dann am Morgen am Set, um auf seinen Nachbesserungen zu bestehen. Vidor ging das verständlicherweise auf die Nerven, er log deshalb: "Dave, das haben wir schon gedreht." Da er dies aber nicht ständig wiederholen konnte, blieb er bis zum Produktionsende nicht auf dem Regiestuhl. Er wurde schließlich gefeuert, was aber der Freundschaft zwischen beiden Männern keinen Abbruch tat.

Dieses kurios-ambitionierte Werk ist immer für einen unterhaltsamen Abend gut, bietet aber nicht gerade den Anlass, in Zusammenhang mit der Corona-Krise einen Blick auf die Vidor-Filme zu werfen. Den Grund liefern vielmehr einige Beispiele, die den Regisseur als politischen Menschen kennzeichnen, sozial engagiert, aber eben auf amerikanische Art – wie derzeit von Andrew Cuomo, dem Gouverneur des Bundesstaates New York, verkörpert.

Deutlich wird Vidors poltische Einstellung in OUR DAILY BRED (1934), einer vornehmlich aus eigenen Mitteln finanzierten Produktion, die ihm besonders am Herzen lag und allgemein als einer der ersten New-Deal-Filme gilt.
Ein junges Paar verlässt die Stadt, um wie später die Familie in Fords GRAPES OF WRATH (1940) zur Zeit der großen Depression auf dem Land ein Auskommen zu finden. Die Eheleute bekommen die Chance, ein großes Stück Land von einem Onkel zu übernehmen. Als unerfahrene Städter können sie die verwahrloste Farm allein nicht bewirtschaften und nehmen deshalb die Hilfe eines vorbeikommenden Farmers an, der auf der Suche nach Land ist. Zudem holt man sich die Unterstützung von weiteren Arbeitslosen. Es entsteht eine kleine Ansiedlung von Familien, in der jeder seine Aufgabe hat und der Gründer dieser "Landkommune" den Vorsitz übernimmt.
Als eine große Dürreperiode die Ernte zu vernichten droht, schlägt er den desillusionierten Siedlern vor, einen Kanal zu einer Wasserquelle zu graben. Es sei ihre einzige Chance, jeder müsse sich zu seinem eigenen Nutzen für die Gemeinschaft einsetzen, überredet er die erschöpften Hoffnungslosen. Am Ende gewinnt die mobilisierte Tatkraft der Menschen, das Wasser überwindet sämtliche Hindernisse, bis es sich triumphal auf die verdorrten Felder ergießt. Voller Dynamik und Ideen für Details hat Vidor den Bau des Kanals gestaltet, als ein Werk, bei dem individuelle Eigenheiten und Stärken ineinandergreifen.

Die Energie, eine selbstgestellte Aufgabe zu bewältigen, bestimmt AN AMERICAN ROMANCE (1944). Dies ist kein Liebesfilm, sondern der Lebensgeschichte eines mittellosen tschechischen Einwanderers (Brian Donlevy), der es mit unbändiger Wissbegier zum Chef einer Automobilfabrik bringt, in der schließlich Kampfflugzeuge für den Zweiten Weltkrieg gebaut werden. Die Romanze bezieht sich also eher auf die Liebe des Immigranten zu den USA als auf seine Liebe zu einer Lehrerin (Ann Richards), die ihren Beruf aufgibt, um die Karrie ihre Mannes zu unterstützen. Vidor erweist sich in diesem Film als ein kluger Propagandist des  "american way of life", weil er auch einen Sinn für das Zwiespältige hat. Der erwachsene Sohn stellt sich gegen den Vater auf die Seite der Arbeiter, die bindende Veträge fordern, um nicht mehr auf das patriarchalische Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer angewiesen zu sein. Die Zeiten haben sich geändert und mit ihnen die Ziele der Menschen.

Bildschirmfoto 2020 04 12 um 08.52.17Doch unter den Stummfilmen ist auch THE CROWD (1928, im Bild links)) zu finden, der gewissermaßen als Gegenentwurf zu Vidors Optimismus gelten kann. Denn obwohl sein Vater für ihn von Geburt an große Pläne hat. bleibt der "Held" des Films EIN MENSCH DER MASSE, wie der deutsche Titel treffend heißt. Co-Autor Vidor mag bei der Vaterfigur an seinen eigenen Erzeuger gedacht haben, der ihm den optimistischen Vornamen King gab.

Mehrere Schicksalsschläge werfen den glücklich verheirateten Büroangestellten im Film aus der Bahn. Der amerikanische Traum vom Erfolg verwandelt sich in einen Albtraum, mit dem Vidor nach THE BIG PARADE von 1925 der zweite großer Eintrag in die Filmgeschichte gelungen ist. Der Weg zum Millionär bleibt eben für die Mehrzahl der Menschen versperrt.

Vidors Abneigung gegen den Kommunismus als Lösungsmöglichkeit für dieses Problem bezeugt die an Lubitschs NINOTCHKA (1939) angelehnte Komödie COMRADE X aus dem Jahr 1940. Hedy Lamarr spielt eine überzeugte Kommunistin in Moskau, die dem von Clark Gable verkörperten amerikanischen Auslandsreporter verfällt. Während das immerhin von Ben Hecht verfasste Script allzu konstruiert wirkt, wird der Film wird durch die Spielfreude nicht nur der beiden Hauptdarsteller, sondern auch einiger deutscher Emigranten veredelt, die schon bei Lubitsch eingesetzt waren.

Weil Vidor, der Enkel ungarischer Einwanderer, keine nationalistischen Scheuklappen trug, gelang ihm mit THE BIG PARADE eine Schilderung des Ersten Weltkriegs, in der die deutschen Soldaten nicht als die bösen Hunnen dämonisiert wurden. Der Film gilt allgemein als großes Bekenntnis gegen den Krieg und als Vorläufer der vielen nachfolgenden "Anti-Kriegsfilme", nicht zuletzt auch durch Vidors eigene Kommentare.

Aus heutiger Sicht steht aber die Romanze zwischen einem amerikanischen Soldaten, der von dem Zwanziger-Jahre-Star John Gilbert gespielt wird, und einem französischen Bauernmädchen (Renée Adotée) im Zentrum des Films. Und diese Romanze wird durch einige, aus unserer Sicht recht naiv wirkende Kampfszenen unterbrochen. Diese Melange könnte den Film auch seinerzeit, sogar in Deutschland,  überaus erfolgreich gemacht haben.

Kennzeichnend für King Vidor – und das macht ihn als Filmemacher so interessant – ist seine Art, Genres zu erweitern, sie nur als Grundgerüst für seine Arbeiten zu verwenden. Er sah seine Aufgabe als Regisseur darin, immer seine eigene Sicht auszudrücken und nach neuen Wegen zu suchen. Dabei mag ihm, dem attraktiven Womanizer, auch seine Menschenkenntnis zu Hilfe gekommen sein.

Eine ganze Reihe seiner Filme dreht sich um Verliebtheit und Liebe, die im Idealfall ineinander übergehen. So ist in einem seiner schönsten Filme, THE WEDDING NIGHT, eine großartige Szene zu bewundern. Ein verheirateter Schriftsteller (Gary Cooper) verliebt sich in eine junge Frau (Anna Sten) aus einer polnischen Nachbarsfamilie, die bereits verlobt ist. Er lässt sich zu einem stark autobiografischen Roman inspirieren, dessen Manuskript der einige Zeit von ihrem Mann getrennt lebenden Ehefrau (Helen Vinson) in die Hände fällt.

Als sich die beiden Frauen begegnen, diskutiert die Ehefrau mit ihrer Nebenbuhlerin die Situation in Form einer Literaturkritik am noch nicht beendeten Werk ihres Mannes. Ihr Vorschlag für das Ende des Buches deckt sich natürlich mit ihrem Wunsch für das Ende der wohl erst drohenden Affäre ihres Mannes und den Bestand ihrer Ehe. Auf so eine Idee muss man erst einmal kommen.

Es gibt also genügend Gründe, sich mit King Vidor und seinen Filmen zu beschäftigen. Da sind seine überzeugenden Figuren, die sich den Herausforderungen ihres Lebens stellen müssen, und seine christlich geprägten Ansichten über das menschliche Zusammenleben. Zudem machen starke Frauen wie etwa Bette Davies in BEYOND THE FOREST (1949), die als Ehefrau eines Kleinstadtarztes ein Verhältnis mit einem Chicagoer Geschäftsmann vor ihren Nächsten verbirgt und dabei in dramatische Konflikte gerät, viele seiner Filme heutzutage besonders interessant.

Fotos:
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