winterreiseSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 22.10. 2020, Teil 6

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Man glaubt kaum, wie unterschiedlich die Leben derer verliefen, die sich vor Hitler und dem Nazireich noch rechtzeitig ins Ausland retten konnten und erst recht, wie unterschiedlich Kinder dieser Überlebenden aufwuchsen, nämlich ob und wann sie überhaupt von der Herkunft ihrer Eltern, ihrer Flucht, manchmal auch von ihrem Judentum erfuhren.

Martin Goldsmith (Leonard Scheicher) ist so ein amerikanischer Junge, der lange von nichts weiß, aber wohl seine ganze Kindheit über spürt, daß da was ist, worüber nicht gesprochen wird. Wobei dem Jungen durchaus biographische Hintergründe der Eltern erzählt worden sind: deutsche Juden ohne religiösen Hintergrund, die in die USA kamen, während die übrige Familie im Zweiten Weltkrieg in Europa zu Tode kam. Und das Typische ist, daß er immer Irritationen angesichts des Ungesagten fühlte, aber dies eben nicht selbst in Frage stellte, bis, ja bis die Mutter starb. Diese tiefe Verunsicherung, die der Tod von innig geliebten Menschen auslöst, machte den erwachsenen Sohn ( Harvey Friedmann) frei, den Vater nach früher zu fragen und die Fragen machten es Günther Goldschmidt möglich, über die Jahre in Deutschland, insbesondere die Zeit des Nationalsozialismus in den Dreißiger Jahren und die Rettung durch Flucht zu sprechen.

Bruno Ganz spielt in einer seinen letzten Rolle den in die USA geflüchteten Musiker Günther Goldschmidt. Und wie er das macht und im Zusammenspiel mit dem zwar liebevollen, aber doch sehr respektvollen Sohn das zarte Verhältnis verdeutlicht, zeigt noch einmal seine ganze Kunst, die nicht im Überspielen, sondern eher im Beiläufigen, im Understatement liegt. Und so kommt es, daß man immer wieder vergißt, daß hier ein Schauspieler spielt, weil eine Echtheit über dem Geschehen liegt, die einem eine Dokumentation suggeriert, was aber – obwohl es nicht stimmt – doch auch wieder eine Wahrheit enthält.

Denn die Fragen des Sohnes, die erst einmal dem Leben in Deutschland gelten, wie die Eltern gelebt haben, wie sie großgeworden sind, sich kennengelernt haben, deren Eltern, ihr Kennenlernen, werden immer mehr und der Vater antwortet ebenfalls immer ausführlicher. Und dann die Musik. Denn auch wenn heute der Vater der prominentere Musiker ist, so war doch Mutter Rosemarie in Deutschland schon Orchestermusikerin, als Günther noch am Anfang seiner Karriere steht – aber an einem anderen Ort. Und weil das so war, hat Günther versucht, Vertretungen an anderen Häusern zu ergattern, um der Geliebten nahe zu sein, wozu es nützlich war, im Jüdischen Kulturbund Mitglied zu sein, schon deshalb, weil dort wie in einer Tauschbörse Vertretungsstellen für diverse Städte gehandelt wurden. Und das nun gibt dem Film eine Dimension, die weit über persönliche Geschichten hinausgeht, denn wir bekommen als Grundton im Film nun auch noch die Geschichte und die Funktion des Jüdischen Kulturbundes unter den Nazis mit, worüber dem Normaldeutschen wenig bekannt ist.

Und weil das so ist, fügen wir gerne den im Presseheft veröffentlichten Beitrag über den Jüdischen Kulturbund in die Serie ein. Auch wenn die meisten von uns in der Redaktion viel über den Nationalsozialisten wissen, so ist doch das Wissen über konkrete Maßnahmen sehr ungenau. So ist in ganz Deutschland die Kenntnis über die Verfolgung der Juden ab der Machtergreifung der Nationalsozialisten vage. Einige glauben, daß Juden sofort verfolgt wurden, was nicht stimmt und was ja gerade dazu beitrug, daß die meisten hofften, die Drohungen der Faschisten würden nach der Machtergreifung Sprüche bleiben. Dabei war es ein abgestuften Verfahren. Wer Beamter war, ein Prominenter oder politisch, der wurde sofort entlassen wie beispielsweise Max Beckmann als Professor für Malerei am Frankfurter Städel oder Fritz Bauer als jüngster Amtsrichter Deutschlands und SPD-Mitglied, der zudem sofort eingesperrt wurde. Aber nicht als Jude, sondern als politischer Kopf.

Die Entrechtung, die Verarmung, die Verfolgung und Vernichtung der deutschen Juden erfolgte peu a peu. Das erkennt man sehr plastisch am Leben der beiden jüdischen Musiker. Erst werden die Engagements immer weniger, dann unterbleiben sie ganz, es sei denn, sie sind Mitglieder des Jüdischen Kulturbundes. Dieses Gesetz von 1935 macht den Kulturbund zum Handlanger der Nazis – und gleichzeitig war nur mit dem Kulturbund ein Lebensunterhalt als Musiker möglich.

Das alles wird an den Gesprächen deutlich, ohne daß dies einen belehrenden Anstrich bekäme. Auf bemerkenswerte Weise werden die Szenen der Vergangenheit sinnlich überzeugend. Wie das gemacht wird, wird vom Regisseur detailliert erklärt. Es steckt also in den sich immer inniger entwickelnden Gesprächen auch für uns eine aufklärende Funktion. Wir sind nicht dazu gekommen, das dem Film zugrundeliegende Buch "Die unauslöschliche Symphonie. Musik und Liebe im Schatten des Dritten Reiches - eine deutsch-jüdische Geschichte" von Goldsmith bei Herder Spectrum zu lesen, was sicher vor und nach und auch ohne Film interessant ist.

Auch im Film nimmt uns Sohn Martin Goldsmith an die Hand. Denn er ist derjenige, der die Kamera führt und mit seinem Filmvater die Gespräche führt, die er aufgrund der wirklichen Dialoge mit seinem Vater aufgeschrieben hat. Wir hören also nur seine Stimme, mit der er seinen Vater immer stärker zum Reden bringt, was diesem gut tut. Das ist das Schöne am Film, daß man der Funktion von Schweigen in der Familie zwar menschlich Verständnis entgegenbringt, aber mit den Protagonisten so froh ist, als echte Gespräche eine Nähe schaffen, die die Vergangenheit nicht auslöschen kann, aber Vater und Sohn miteinander auf eine andere menschliche Ebene bringen.


Foto:
© Verleih

Info:
Buch: Anders Østergaard und Martin Goldsmith,
nach einer Buchvorlage von Martin Goldsmith
Regie: Anders Østergaard

Bruno Ganz als Georg Goldsmith (alt)
Leonard Scheicher als Günther Goldsmith (jung)
Harvey Friedmann als Martin Goldsmith on Set
Dani Levy als Vermieter
András Bálint als Professor Spittel
Izabella Nagy als Rosemarie Goldsmith
Martin Goldsmith als Erzähler