Bildschirmfoto 2020 10 29 um 16.09.20Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 29. Oktober 2020, Teil 10

Mathieu Loewer

Zürich (Weltexpresso) - WIE KAMT IHR AUF DIE IDEE FÜR DIESEN FILM, DER SICH ZWISCHEN DER SCHWEIZ UND BERLIN ABSPIELT?

Véronique Reymond : Wir wollten unseren Horizont erweitern, mit nicht frankophonen Schauspielern arbeiten. Dieses Bedürfnis vermengte sich mit dem Wunsch, von einer Frau um die Vierzig in der Midlife-Krise zu erzählen, die hin- und hergerissen ist zwischen der Welt der internationalen Schulen in der Schweiz und der Theaterwelt in Berlin, zwischen ihrem Familienleben und ihrem künstlerischem Schaffen. 

Stéphanie Chuat : Wir ließen uns von Nina Hoss inspirieren, die wir in Barbara von Christian Petzold entdeckt hatten. Und dann mischte sich noch das Schicksal ein. Im Februar 2015 sahen wir sie zufällig in einem Laden in Berlin. Wir gingen auf sie zu und sagten: „Guten Tag, wir sind zwei Regisseurinnen aus der Schweiz und schreiben gerade einen Film für Sie. Hätten Sie Zeit für einen Kaffee?“ Drei Tage später verabredete sie sich mit uns in einem Café am Potsdamer Platz auf einen „schnellen Kaffee“, der am Ende drei Stunden dauerte. Es war unglaubliches Glück, dass wir sie auf diese Weise kennenlernten und sie dem Projekt treu geblieben ist, dessen Finanzierung vier Jahre beanspruchte.

VR : Im Gespräch mit Nina entdeckten wir unsere gemeinsame Verbindung zum Theater, insbesondere zur Berliner Schaubühne. Wie Lars Eidinger gehörte sie dort zum Ensemble, und beide hatten unter der Regie von Thomas Ostermeier gespielt. Ihn kannten wir noch aus der Zeit, als er noch Student war und ein Stück in Genf aufgeführt hatte.


DER FILM WIRD ALSO VON SEINEN DARSTELLERN GETRAGEN, DIE IHM SOGAR EINE DOKUMENTARISCHE NOTE VERLEIHEN...

VR : Lars Eidinger spielte und spielt noch immer in Thomas Ostermeiers Truppe den Hamlet. Wir konnten uns für die Rolle des Bruders keinen anderen Schauspieler vorstellen. Wir liebten es, an der Schaubühne zu drehen, es war großartig, diese Theaterfamilie zu sehen, ihren Umgang miteinander, und wie sie sich ständig und sehr geschwind über das Theater unterhielten!

SC : Wir hatten das Glück, dass Thomas uns die Pforten zur Schaubühne öffnete und die Rolle des David spielte. Da wir selbst vom Theater kommen, bedeutet uns diese geistige Aufgeschlossenheit sehr viel.

VR : Wir diskutierten lange mit ihm über seine Dialoge, denn ein Thomas Ostermeier redet in einem Film, in dem er einen Regisseur spielt, also beinahe seine eigene Rolle, nicht irgendetwas daher. Als er uns sagte, dass er niemals einen todkranken Schauspieler besetzen würde, änderten wir das Drehbuch dementsprechend.



DAS EIGENTLICHE THEMA VON SCHWESTERLEIN SIND DIE BLUTSBANDE?

VR : Ja, diese Beziehung zwischen Bruder und Schwester ist das Herz und die Seele von Schwesterlein. Lisa und Sven stehen immer in Verbindung miteinander. Die Herausforderung des Films war es, dieser unsichtbaren, unbeschreiblichen Verbindung zu folgen.

SC : Dieser Film ist sehr nahe an unserer eigenen Erfahrung, denn es ist ebenfalls das künstlerische Schaffen, das uns als Duo miteinander verbindet. Bevor wir zum Filmemachen kamen, haben wir gemeinsam viele Stücke erfunden. Die Fantasie gehört zu unserem täglichen Leben, wir malen uns zum Beispiel gerne das Leben der Menschen aus, die uns auf der Straße über den Weg laufen... Wir haben das auch ins Drehbuch eingebaut, in dem Lisa und Sven „die Welt mit vier Augen betrachteten“, doch haben wir diese Szene beim Schnitt gelöscht. Die Nähe zwischen den beiden Figuren war so deutlich, dass wir sie nicht noch mehr betonen mussten. 


SCHWESTERLEIN KONFRONTIERT UNS AUCH MIT KRANKHEIT UND TOD...

VR : Um ihre Verbundenheit auf die Probe zu stellen, wollten wir die Zwillinge mit der Trennung konfrontieren. Und nur der Tod kann einer so starken Beziehung ein Ende setzen. Als Sven krank wird, begreift Lisa, dass auch sie ihre Verbindung zum Theater verlieren wird, die sie durch ihn aufrecht erhalten hatte. Sie beginnt wieder zu schreiben, um ihm eine letzte Rolle anzubieten, doch unbewusst macht sie es ebenso sehr für sich selbst wie für ihn. So schafft sie wieder eine Verbindung zu ihrer eigenen Kreativität. Je mehr er erlischt, desto mehr tritt sie ans Licht. Er stirbt und sie wird wiedergeboren.

SC : Auch hier spiegeln sich persönliche Erlebnisse wider. Im Mai 2015 erfuhr ich, dass meine Mutter Krebs hatte. Ich begleitete sie zehn Monate lang bis zu ihrem Tod. So wie ich bei meiner Mutter, spielt Lisa die Rolle der Pflegeperson. Zu gleichen Zeit verlor Véronique ihren Vater, während wir gerade an einem Film über Tod und Trennung arbeiteten.


IHRE FILME HABEN OFT EINE FEMINISTISCHE SEITE, DIE ABER NICHT ZUR SCHAU GESTELLT ODER BETONT WIRD...

SC : Unser Dokumentarfilm Les Dames erteilte Frauen über 65 das Wort, die sich in unserer Gesellschaft unsichtbar fühlen. In unserem Drama La Petite Chambre zerbricht Rose an der Trauer um den Verlust ihres totgeborenen Kindes. Diese Frauen engagieren sich nicht spontan aktiv, ihr Kampf bewegt ihr Leben auf subtile Weise. Wir folgen ihrem inneren Weg auf der Suche nach Emanzipation, sei es für sie selbst oder in den Augen ihrer Umwelt. Uns interessiert eine Art sanfter Selbstbehauptung, die mehr durch Taten als durch Sprache stattfindet.

VR : Wir finden es vor allem interessant, das Thema Feminismus unter dem Gesichtpunkt der Mann-Frau-Beziehung zu behandeln. In Schwesterlein scheint Lisa zunächst im Dienst ihres Bruders und ihrer Familie zu stehen und deshalb etwas unscheinbar zu sein. Ihre innere Kraft kommt erst im Lauf des Films durch die Prüfungen, die ihr auferlegt werden, zum Tragen. Am Anfang jedoch ist sie die Ehefrau eines Mannes, der Karriere macht, während sie auf ihre eigene verzichtet, um sich um die Kinder kümmern. Viele Frauen, die eine gute Ausbildung haben, beschließen, ihre Ambitionen herunterzuschrauben, um eine Familie zu gründen, und ermöglichen es so ihrem Partner, sich beruflich zu entfalten. Besonders häufig kommt das bei Expat-Paaren vor, wenn die Frau ihrem Ehemann folgt und sich um die Familie kümmert, während sie darauf wartet, dass sie selbst dran ist. Aber oft passiert das nicht. Die familiären Verpflichtungen zwingen die Frauen zu Entscheidungen, die sie allzu oft zu Gefangenen machen.


DIESER FILM, IN DEM ES UM KREATIVITÄT GEHT, WIRKT WIE EIN GLAUBENSBEKENNTNIS, EINE LIEBESERKLÄRUNG ANS THEATER – BIS HIN ZU DER ROMANTISCHEN SEHNSUCHT, AUF DER BÜHNE ZU STERBEN? 

SC : Viele Schauspieler träumen davon, auf der Bühne zu sterben. Zur Zeit von La Petite Chambre sagte Michel Bouquet zu uns: „Ein Schauspieler ist nur dann lebendig, wenn er spielt.“ Das Spielen wehrt den Tod ab. Allgemeiner gesagt, beeinflusst die Kunst unsere Beziehung zur Welt und macht uns bewusster, wacher. Sie hilft uns auch, uns mit der Wirklichkeit zu arrangieren, indem sie uns Hoffnung einflößt. 

VR : Die Welt, die wir für unsere Figuren erschaffen, erscheint uns manchmal realer als unser Alltagsleben. Künstler teilen miteinander dieses seltsame und köstliche Gefühl, manchmal von der realen Welt abgekoppelt zu sein.


WIE IN LA PETITE CHAMBRE ODER LES DAMES IST DAS THEMA ERNST, DOCH DIE BILDER SIND VOLLER LICHT, UND DIE KAMERA IST SEHR BEWEGT. ENTSPRICHT DIESE ÄSTHETIK EUREM BLICK?

SC : Wir wollten bewegte Bilder, denn Bewegung heißt Leben. Es gibt eine Spannung, einen Rhythmus, der dem Film seinen Atem einhaucht. Wir verwenden viele Plansequenzen, die dem Spiel zu Gute kommen. Genaues Arbeiten über den Fokus des Bildes ist ebenfalls entscheidend, da wir mit der Handkamera arbeiten, sie gibt der Szene einen Blickwinkel, lenkt den Blick des Zuschauers.

VR : Die Inszenierung spiegelt das innere Fieber der Figuren wider. Unter der Oberfläche eines anscheinend ganz gewöhnlichen Alltags vibriert etwas. Etwas, das in ihren Adern pulsiert.


IHR SEID SCHAUSPIELERINNEN, DREHBUCHAUTORINNEN UND REGISSEURINNEN ZUGLEICH. WELCHEN ANSATZ VERFOLGT IHR BEI DER SCHAUSPIELFÜHRUNG?

SC : Wegen ihres vollen Terminkalenders hatten wir vor den Dreharbeiten nur einen gemeinsamen Tag mit Nina und Lars. Wir gingen alle ihre Szenen und Dialoge durch. Nach dieser Lesung nahmen wir geringfügige Änderungen vor, damit sie sich den Text aneignen konnten. Diese kurze Probenzeit genügte, weil wir während des gesamten Schreibprozesses lange mit ihnen über ihre Figuren gesprochen haben.

VR : Vor dem Dreh spielen wir zuerst am Set die Szenen durch, um den Anforderungen der Szene gemäß die Kamerapositionen zu bestimmen. Dann schlagen wir den Schauspielern eine Art Choreografie vor. Dann ist es an ihnen, sich diese anzueignen, sie zu ändern und auf ihre Weise zu übernehmen. Gleichzeitig definieren wir die emotionale Bewegung der Szene, da Handlung und Beweggründe eng miteinander verbunden sind. Große Schauspieler wie Nina Hoss, Lars Eidinger, Marthe Keller und Jens Albinus haben den Text bereits verinnerlicht, so dass wir bald bei der Feinjustierung im Bereich des Ungesagten, des Nonverbalen angelangt sind. Es ist eine große Freude für uns, auf diesem Niveau arbeiten zu können. 

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