Eine doppelte Lesung von Ulrich Tukurs DIE SPIELUHR: im Literaturhaus Frankfurt und als Hörbuch, Teil 2
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Und mitten im größten Behagen der Lesung ist unvermittelt Schluß. Schon? Nun gut, der Autor und Leser darf nichts vom Ende verraten, Spannung soll bleiben und die Leute sind's ja auch zufrieden und im Nu stehen 25 Personen an, alle ein Buch in der Hand, das sie signiert haben möchten, denn, so hatte Ulrich Tukur versprochen: „Mit dem Spruch Ihrer Wahl. Kann auch etwas Extravagantes sein“.
Mit glücklichen Gesichtern verlassen die Gekommenen das Literaturhaus. Eigentlich wollte ich dem Vorleser noch zwei Fragen stellen, aber das wird hier dauern, denn die Schlange wird immer länger, weil jetzt auch noch diejenigen, die sich draußen ein Buch besorgen, mit diesem wieder hineinkommen und die Schlange verlängern. Beim Hinausgehen lese ich: „Ausverkauft“und „Beginn der Lesung 19: 30 Uhr“. Jetzt erst werde ich rot, heißt das doch, ich bin nicht verspätet gekommen, sondern mitten in die Lesung hineingeplatzt. Peinlich. Aber jetzt bedauere ich erst recht, daß ich mich dann wohlerzogen und stumm setzte, statt auf Ulrich Tukurs Anmutungen zu erwidern: „Ei Gude, ei Ulrisch, des habbe mirr doch abgeschprosche, des ich da so reinkomm und Du draufhaun kannst. Des wor doch Dei Idee, damit eh bissi was bassiert!“
Denn dann hätte sich der Schnelldenker,Schnellschwätzer – so sacht mer in Frankfort – und Alleinunterhalter Ulrich Tukur mal was ausdenken müssen. Er hätt`s gekonnt, wir sind sicher, und dachten trotzdem: „Glick gehabt, Ulrisch!, daß wir schwiegen“. Aber da war ja wohl doch ein schlechtes Gewissen unsererseits wegen der fulminanten Verspätung, die ungewollt passierte, wähnten wir doch den Beginn um 20 Uhr.Als ich nämlich nachfragte, wie der Verkauf sei und von den 28 Büchern hörte und davon, daß auch Hörbücher verkauft worden seien, von denen ich überhaupt nicht wußte, daß es sie gibt, entschließe ich mich spontan, den versäumten Anfang der öffentlichen Lesung durch das Hörbuch mit Tukurs Stimme zu kompensieren.
Natürlich blieb es nicht dabei, beim Anfang. Ich hörte alle drei CDs, so viele brauchen die doch nur 151 Seiten der Novelle. Und inzwischen kann ich beglaubigen, man kann das Buch lesen, kann Ulrich Tukur auf dem Podium erleben, kann ihn auf dem Hörbuch goutieren und hört immer wieder etwas Neues. So ist das mit unserer Aufmerksamkeit, die Tukur ganz gezielt steuert. Neben dem Handlungsstrang, den man wiedererkennt, hat er die Novelle mit so vielen Details ausgestattet, daß immer wieder ein Gegenstand, eine Person sich in den Vordergrund drängt, die wir vorher gar nicht wahrnahmen. Zudem weist ihn seine DIE SPIELUHR als wahren Kunst- und Musikfreund aus und – ach ja, als Rotweintrinker, nicht nur des Genusses, sondern auch der entspannenden Wirkung wegen.
Aber, damit das nicht verloren geht, soll rasch weitergesagt werden, was Tukur am Schluß der Lesung noch zur Gestaltung seine Buches sagte, dem das Hörbuch folgt: Wunderschön sei es und solle schon deshalb gekauft werden! Recht hat er. Selten kann man ein dem Inhalt so stimmiges Äußeren im Buchformat erleben. Nahe an DIN A 5, gibt der blaßgrünfarbene Leineneinband, auf dem goldgefaßt in Schwarz der Titel DIE SPIELUHR und in Gold EINE NOVELLE VON, in Schwarz ULRICH TUKUR folgt, eine Erinnerung wieder, die wir an alte, schön gebundene und schön gestaltete Bücher haben. Aber noch mehr. Die Schriftgestaltung auf dem Titel - außen und innen - ist beispielsweise nachempfunden der in gelbem Leinen gebundenen Ausgabe von August Strindbergs Werken aus dem Georg Müller Verlag. Das war 1909 im Stil der Zeit und genau dorthin führt uns dieser schöne Einband von Buch und Hörbuch.
Bei Ulrich Tukurs Lesungen auf den drei CDs fällt folgendes auf. Die Novelle ist in sich verschachtelt und besitzt mehrere Ebenen und zwar nicht nur Zeitebenen, die rund drei Jahrhunderte überspannen, sondern auch die Ebenen von Wirklichkeit und Imagination oder auch spirituelle Erfahrungen oder Phantastereien, wahrhaftig mehrdimensional also. Beim Lesen stutzte man gelegentlich leicht und hat dann sofort den roten Faden wieder, was Spaß macht, wenn man selbst am Ball bleibt und weiß, in welcher Zeit und welcher Ebene (Wirklichkeit, Film, Traum, Gespinst, zweite Wirklichkeit) die Szene gerade spielt. So kann ein gelesenes „Ich“, sowohl den Schauspieler Tukur meinen, aber auch sein alter ego als Doktor Wilhelm, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, als der Schauspieler Tukur auf einmal bei seinem Schloßbesuch angesprochen wird, , aber „Wilhelm“ ist ja auch Wilhelm Uhde, den Turkur im Film verkörpert und Wilhelm blieb Tukur für die Filmmannschaft, weil sein Vorname Ulrich für Franzosen schwierig auszusprechen ist. Das „Ich“ kann auch der Major sein, der als Friedrich von Rotha nicht nur den Widerstand gegen Hitler unterstützt, sondern auch ansonsten eine interessante Figur abgibt ...
Magischen Realismus nannte man die ebenfalls mehrschichtige Literatur aus Lateinamerika und Ulrich Tukur bringt von allem etwas, wenn er einerseits Dinge beseelt oder Seelen zu Totem werden läßt. Daß ein Selbstmord dem anderen folgt und welche Rolle Bäume spielen, gehört auch dazu. Am hinreißendsten gelingt ihm das im Schloß Montrague, auf das wir unbedingt noch kommen müssen, wenn der Erzähler – sechzig Jahre vor seiner Zeit – im gemauerten Deckengewölbe, was eine Küche sein soll, von etwas Dunklem von der Wand angesprungen wird. Es war eine Bekassine, eine Art Schnepfe, die eben noch ausgestopft und mausetot auf dem Brett der Wandverkleidung gestanden hatte.
„Der Vogel, von der Größe einer Taube, schüttelte die verstaubten Federn seines seit einer Ewigkeit unbenutzten Gefieders, stakste unsicher auf dem Fußboden umher, machte einen hilflosen Flugversuch und hüpfte schließlich durch eine Tür, die sich rechts des gewaltigen Kamins auftat. Nun fing es überall an, sich zu regen, zu schütteln, zu bewegen, und neues Leben fuhr in die präparierten Tiere wie ein satanischer Funken. Ein Marder sprang fauchend auf den Refektoriumstisch und riß ...Ich suchte diesem animierten Tohuwabohu zu entkommen, das innerhalb kürzester Zeit entstanden war, fand...“ Fortsetzung folgt.
Foto: Hörbuch Hamburg
INFO I:
Wer das außerhalb Hessens nicht so richtig versteht, soll wissen, daß Ulrich Tukur ein Hesse ist. Ein Südhesse, genauer. Denn er wurde in Viernheim geboren, ist also für Hiesige, fast ein Odenwälder Bub.
INFO II:
Hinten im Buch ist die Buchanzeige: Ulrich Tukur, Die Seerose im Speisesaal. Venezianische Geschichten. Die zu lesen werden wir nachholen. Tukur steht in sehr ehrenwerter Gesellschaft. Denn die Seite weiter wird DIE WAND annonciert, jener hinreißender und tief berührender Roman der oberösterreichischen Hausfrau, die als Schriftstellerin erst nach ihrem Tod reüssierte. Dieser eigentlich unverfilmbare Roman wird durch die Schauspielkunst der Martina Gedeck auch zu einem überzeugenden Film: DIE WAND. Und dabei fällt uns ein, daß Ulrich Tukur, der ja auch als Felix Murot ein hessischer, ein Wiesbadener Tatortkommissar ist, DEN TATORT: WIE EINST LILLY mit Martina Gedeck spielte. Es gibt wirklich keine Zufälle.
INFO III:
Ulrich Tukur, Die Spieluhr. Eine Novelle nach einer wahren Begebenheit, Ullstein Verlag
Ulrich Tukur liest: Die Spieluhr, ungekürzte Autorenlesung, 3 CDs, Laufzeit 225 Minuten, Hörbuch Hamburg
Erste Buchbesprechung:.
http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/2120-die-spieluhr-aus-dem-ullstein-verlag
Lesung Teil 1
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