Lida Bach
Zuerst kitzelt Sarah ihren kleinen Bruder, dann versteckt das Mädchen (Mélusine Mayance) den 4-jährigen Michel (Paul Mercier) im Wandschrank. Erstes ist ein Spiel, zweites tödlicher Ernst. Wenn die Polizei Michel findet, wird sie ihn wie Sarah und ihre Eltern abholen und in den Tod schicken, der 1942 auf die im Velodrom zusammengepferchten jüdischen Einwohner wartet. Michels Leben liegt in der Hand Sarahs, die sich mit dem Schlüssel an ihre letzte Hoffnung klammert.
Es ist „Sarah´s Key“, wie der Originaltitel von „Mein Name ist Sarah“ den symbolträchtigen Handlungsgegenstand nennt, mit dem sich die Journalistin Julia (Kristen Scott Thomas) ihre eigenes Leben erschließt und der in Gilles Paquet-Brenners bedeutungsschwerer Verfilmung von Tatiana de Rosnays Bestseller ein düsteres Geschichtskapitel öffnet, mit dem auch Julias französischer Ehemann Bertrand Tezac (Frédéric Pierrot) verbunden ist. Die in pittoresker Historizität gestalteten Rückblenden, deren behutsam dosiertes Grauen elegische Musik und Sentiment verzärteln, sind nur Vignetten im Gefühlsroman Julias im Zentrum des Plots. Die Parallelaufnahmen, welche die unwahrscheinliche psychische Nähe Julias und Sarahs betonen, kreieren ein Air mystischer Vorbestimmung, dass einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Vergangenheit Hohn spricht.Indem er den verzweifelten Kampf eines Kindes mit Julias emotionalen Konflikten gleichsetzt, nivelliert „Mein Name ist Sarah“ historisches Grauen zu einer prätentiösen Anekdote, deren einziger Zweck scheint Familienwerte und Selbstverständnis der Nachgeborenen zu sichern.
Beim Betrachten alter Fotos und dem bedächtigen Durchwandern von Gedenkstätten schlüpft Julia neben der Rolle eines Holocaust-Opfers in die einer Romandetektivin, die auf der Spur eines düsteren Geheimnisse internationale Metropolen bereist. Gleich einer Heldin der schwarzen Romantik findet sich Julia in der Biografie einer verfolgten, von Entdeckung und Tod bedrohte Protagonistin wieder. Der Schlüssel liefert das obligatorische geheimnisumwitterte Requisit, das im wörtlichen Sinne das zentrale Mysterium öffnet. In der Tradition von Gothic und sentimentaler Novelle ist das Bindeglied zwischen Gegenwart und Vergangenheit die Liebe; Julias Liebe zu Bertrand und dem Kind, das sie erwartet. Das dunkle Familiengeheimnis ist das Bertrands, der die Wohnung erbte, in der Sarah einst ihren Bruder zurückließ. Die Rückblende kulminiert in einen Akt bizarren Grand Guignols, der Sarah die verwesenden Körper ihres Bruders entdecken lässt. Die Leiche wird zum sinnbildlichen Skelett im Schrank, das die deportierten Vormieter Bertrands Eltern als gleich einem Symbol kollektiver Schuld von Öffentlichkeit und Vichy-Regime hinterlassen haben.
Der Schrank, den „Sarah´s Key“ öffnet, wird zur Allegorie für Julias Schwangerschaft. Bertrands Entscheidung gegen das Kind droht sinnbildlich Michels finsteres Ende an Julias Baby zu wiederholen. Dass Julia das Kind behält und Sarah tauft, reduziert die ethische Signifikanz ihrer Nachforschungen auf die Wahrung einer reaktionären Sexualmoral, die Geburtenkontrolle mit indirekt mit einem humanitären Verbrechen gleichsetzt. Nicht weniger rührselig als abgeschmackt, deutet die Handlungskongruenz verräterisch auf die Eigenbeteiligung der Protagonistinnen an den Ereignissen, die sie belasten. Sarahs Einschließen des Bruders erscheint doppelt irrational: ein Versteck bietet der Schrank auch unverschlossen, abgeschlossen würde er der Polizei erst verdächtig. Sarahs in Selbstmord mündender Schuldkomplex lässt ihre Tat als unterbewusste Gewalthandlung gegen den Bruder erscheinen. Ähnlich drückt sich in Julias Schwangerschaftswunsch insgeheimer Widerwillen gegen Bertrand aus, dessen Rationalität im Kontrast zu ihrer Intuition steht.
Inhaltlich und stilistisch knüpft Paquet-Brenners gefühlsbetonte Inszenierung an Holocaust-Melodramen wie „Der Junge im gestreiften Pyjama“ oder „La Rafle“ an. Kriegsgräuel dringen nur flüchtig oder gefiltert durch historische Dokumente in die Handlung. Der Genozid wird dezentriert, um als die spannungsteigerndes Moment und Katalysator banaler Beziehungsprobleme zu fungieren, denen der historische Bezug dramatische Relevanz verleihen soll. Der Holocaust gerät zum McGuffin. Als Amerikanerin kann Julia ihre journalistische Neugier und die des sich mit ihr identifizierenden Publikums befriedigen ohne mit persönlicher Verantwortung konfrontiert zu werden. „Wahrheit hat ihren Preis.“, sagt Julia einmal. „Mein Name ist Sarah“ ist nicht bereit ihn zu zahlen.