nomadeSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 1. Juli 2021, Teil 4

Redaktion

Hollywood (Weltexpresso) - Viele der echten Nomaden im Film wurden im Verlauf von mehreren Monaten besetzt, indem man immer wieder ein oder zwei Personen auswählte und mit denen arbeitete, die die engsten Bezüge zu dieser Gemeinschaft haben. Swankie wie auch Linda May wurden bereits sehr früh ausgewählt, weil sie auch schon in Jessica Bruders Buch vorkommen. „Mir erscheint mein Leben natürlich sehr normal und gewöhnlich. Über mich selbst in Jessicas Buch zu lesen, empfand ich als hochgradig peinlich, aber es hat mir auch den Kopf gerade aufgesetzt“, sagt Swankie. „Ich stellte meinen normalen Lebensablauf etwas hintan, um bei dem Film dabei sein zu können, aber es hat sich gelohnt. Chloé hat meine Armschlinge gleich direkt in ihr Drehbuch eingearbeitet.“

Susanne Carlson (die im Film die 20-Liter-Eimer-Lektion erteilt) ist mit Bob Wells die Gründerin ihrer Nonprofitgruppe „Homes on Wheels“, die Nomaden bei ihrem Lebensstil unterstützt. Die Produzenten Mollye Asher und Dan Janvey fanden heraus, dass Susannes Empfehlung der Produktion ein Maß an Gültigkeit und einen gewissen Vertrauensvorschuss verschaffte, wenn sie Kontakt mit den Nomaden aufnahm. Sie ging sogar so weit, einige von den Leuten, die im Film zu sehen sind, zu empfehlen. „Sie schickte uns Anmerkungen wie ,kleiner Hund namens Wilbur, grillt gerne und stellt anderen Nahrung und Verpflegung zur Verfügung‘“, erinnert sich Mollye Asher. „Schließlich hatten wir eine richtige Casting-Akte für Chloé angelegt, mit Namen, Fotos, Fotos ihres Fahrzeugs, sowie interessanten Randinfos. Eine der Nomadinnen, eine 86-jährige Frau namens V.J. Flanery, war eine der allerersten Pilotinnen gewesen!“

Chloé Zhao wählte anhand dieser Akte aus, mit welchen Nomaden sie am liebsten arbeiten würde. Aber dann erwies sich das Casting als fortwährender Prozess. Oftmals wurde erst vor Ort entschieden, wer wirklich in den Szenen sein würde, zum Beispiel beim Rubber Tramp Rendezvous. Die Regisseurin ging von einem zum anderen und wählte die Darsteller aus. Die Gruppe, die ihre Lebensgeschichten am Lagerfeuer erzählt, wurde ebenfalls auf diese Weise zusammengestellt. Ein Merkmal von Zhaos Arbeit ist es, dass es ihr gelingt, ein tiefes Vertrauensverhältnis zu ihren Laiendarstellern aufzubauen und eine Basis für eine Offenheit und Authentizität zu schaffen, die ganz unverkennbar ist für ihre Arbeit. „Stille am Drehort, die Kamera nur auf sie gerichtet, und dann gaben wir ihnen mit dem nötigen Abstand und Respekt alle Zeit der Welt, ihre Geschichten zu erzählen. Das ist es, was das Herz von NOMADLAND schlagen lässt“, findet Mollye Asher.

Reisende wie der junge Derek, den Fern unterwegs trifft, sind den Nomaden in vielerlei Hinsicht ähnlich. Sie gehören aber einer anderen Subkultur an und vermischen sich selten mit den Nomaden. Es passt aber perfekt zu Ferns Wesen, dass sie jemand ist, der keine Berührungsängste kennt. Also ließ sich Chloé Zhao die Szene einfallen, in der Fern dem jungen Mann ein Sandwich anbietet und zu seinem Elternhaus befragt. Derek schloss sich kurzentschlossen der Produktion an. Zhao und die Produzenten finden, dass es dem Spirit von NOMADLAND entsprach, ihm Arbeit zu geben und dafür zu bezahlen.

Swankie sagt über die Arbeit mit Chloé Zhao: „Anfangs fand ich sie etwas einschüchternd, aber als ich sie langsam besser kennenlernte, wurde mir bewusst, dass sie die Einzige war, die das große Bild im Kopf hatte. Wenn sie mich bat, etwas zu tun, das so gar nicht meinem Naturell entspricht, erinnerte sie mich daran, dass der Film eine Geschichte erzählt und nicht mein wahres Leben abbildet. Ich fand sie umwerfend. Ich habe viel dabei gelernt, Chloé und Frances bei ihrer Zusammenarbeit zuzusehen.“

„Ich muss gestehen, dass ich vorher noch nie von Fran gehört oder einen ihrer Filme gesehen hatte“, räumt Swankie ein. „Und doch behandelte sie mich, als wäre ich der berühmte Filmstar und sie der schwärmende Fan. Ich verriet ihr, dass ich keine Ahnung hatte, wer sie ist – sie war überhaupt nicht eingeschnappt. Sie hat einfach nur erzählt, wie sehr sie sich darauf freute, mit mir vor der Kamera zu stehen. Mir kam es so vor, als hätte ich einen alten Freund nach langer Zeit wiedergetroffen. So geliebt, beliebt und geschätzt wie beim Dreh des Films habe ich mein ganzes Leben noch nicht gefühlt.“


Endstation

„Ich denke, dass der Boomer-Generation ein Versprechen gemacht wurde, dass, wenn sie nur dieses und jenes tun würden, alles gut werden würde, wenn sie ins Rentenalter kommen“, sagt Peter Spears. „Offenkundig trat das nicht ein. Und es tritt weiterhin nicht ein. Das Sicherheitsnetz ist löchrig und viele Menschen fallen durch die Maschen. Oder wie Bob Wells es ausdrückt: Es ist, als würde die Titanic untergehen.“

„Und doch“, fährt der Produzent fort, „entspricht diese Situation der Tradition des unverfälschten amerikanischen Individualismus. Viele der Menschen, die in dieses Leben gezwungen werden, entdecken dabei eine Unabhängigkeit und sich selbst. Erstmals in ihrem Leben müssen sie nur sich selbst Zeugnis ablegen. Ich finde das inspirierend – wenn auch kompliziert, wie heute einfach ganz viele Dinge in Amerika schwierig, vielschichtig und uneindeutig sind.“

„Dies sind Menschen, die den amerikanischen Traum neu definieren“, meint Mollye Asher. „Das ist interessant, weil sich alle Filme von Chloé auf die eine oder andere Weise mit dem amerikanischen Traum befassen, jedes Mal jedoch aus einer neuen, unverbrauchten Perspektive – die Perspektive einer Künstlerin, die in einer völlig anderen Kultur geboren wurde und aufwuchs.“

„Die Kraft des fiktionalen Filmemachens hat mich stark berührt und inspiriert, selbst Filme machen zu wollen“, erklärt die Filmemacherin. „Wir leben in einer Zeit, in der wir Gefahr laufen, diese Kraft aus den Augen zu verlieren. Ich wollte den Fokus nicht einfach auf eine Frau legen, die auf der Straße lebt, um einen Sozialkommentar über die Schwachstellen des amerikanischen Kapitalismus abzugeben. Das interessiert mich nicht. Da sehe ich mir lieber eine Dokumentation von Kollegen an, die das besser können. Mir ging es darum, diese Welt zu betreten und eine ganz unverkennbare amerikanische Identität zu erforschen: den wahren Nomaden. Auf diesem Boden will ich mein Publikum treffen. Treffen und, hoffentlich, auch eine Verbindung herstellen, zu jedem Einzelnen.“

„Chloé nutzt das Kino, um das Leben von realen Menschen zu erzählen, die völlig übersehen werden – alte Menschen, obdachlose Menschen“, sagt Kameramann Joshua James Richards. „Es geht darum, das Leben aus einer gewissen Perspektive zu erforschen, die über bloße Beobachtung hinausgeht. Da steckt eine gewisse Poesie drin.“

Linda May beschreibt ihr Leben auf der Straße: „Die Menschen, die ich unterwegs kennengelernt habe, hätte ich sonst niemals getroffen, wegen unterschiedlicher Karrieren, Lebensstile und Orte. Unsere Wege waren völlig verschiedenen, aber als sie sich kreuzten, entstand Kameraderie, Unterstützung und Sorge füreinander – und zwar sofort. Eine Freundschaft, die sich sonst über Jahre entwickelt hätte, entstand auf der Stelle, weil uns unser Nomadenleben ganz eng miteinander verbindet.“

„Manche nennen es einen ‚Ausflug‘ oder ein ‚Abenteuer‘ – ich aber nicht“, betont Swankie. „Ich versuche einfach nur, mein Leben so gut und intensiv wie möglich zu leben, mich jeden Tag aufs Neue zu fordern. Ursprünglich war es mein Lebensziel gewesen, ein wichtiger Teil im Leben meiner Kinder und Enkel zu sein. Das erwies sich mit der Zeit als nicht allzu gesund für mich. Es funktionierte nicht. Das war enttäuschend, sehr deprimierend. Ich musste meine Energien auf einen gesünderen Lebensweg richten. Für mich war das, ein Nomade zu werden. Ich erlebe keine Abenteuer. Ich unternehme kein Sightseeing. Ich mache keine Ausflüge und kehre dann in mein Zuhause zurück. Ich habe kein Zuhause. Ich bin seit mehr als zehn Jahren Nomade und noch lange nicht müde. Alles, was ich besitze, bin ich. Ich muss nirgendwo hin zurückkehren und etwas holen. Ein Nomade zu sein, ist eine Entscheidung, kein Umstand.“

Foto:
©Verleih

Info:
NOMADLAND
von Chloé Zhao, USA/D 2020, 108 Min.
mit Frances McDormand, David Strathairn, Linda May, Charlene Swankie, Bob Wells, Gay DeForest