nahschuß1Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 12. August 2021, Teil 14

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Vorneweg: das ist ein Film, den sich jeder Deutscher, jede Deutsche unabhängig vom Alter anschauen sollte, weil er Grundkonflikte behandelt, die jeder Mensch durchlebt, unabhängig vom System, in dem er lebt, nämlich die Frage nach beruflicher Karriere und dem, was man ihretwegen aufgibt, bzw. auf sich nimmt. Verschärft wird dies in politischen Systemen, wie es die DDR darstellte, wo das berufliche Vorankommen immer wieder mit menschlichen Schweinereien erkauft wurde.

Der Regisseurin ist zuzustimmen, daß die rechtliche Verankerung der Todesstrafe in der DDR-Verfassung und ihre Durchführung in den Jahren bis 1981 kaum bekannt und schon gar nicht Thema in der politischen Diskussion war. Gründe dafür liegen sicher in den Todesschüssen an den Grenzen DDR-Bundesrepublik, die vorrangig öffentlich diskutiert und disqualifiziert wurden. So werden in diesem Film die vielfach auch filmisch thematisierte Bespitzelung anderer auf dem Karriereweg verbunden mit der Todesstrafe und das Besondere ist, daß dies - die Stasitätigkeit und die Todesstrafe - an ein und der selben Person aufgezeigt wird und daß dies, zum zweiten, einen wirklichen Vorgang, eine reale Person betrifft: den Wirtschaftswissenschaftler Werner Siegfried Teske (24. April 1942-  † 26. Juni 1981). Und dabei ist das Besondere, daß zwar die Todesstrafe in der DDR rechtlich möglich war, aber an bestimmte Bedingungen gebunden war, die im Falle Werner Teskes nicht vorlagen: vollendete Tatbestände. Diese Todesstrafe ist also auch nach DDR-Recht unrechtmäßig verhängt und exekutiert worden. Der Filmtitel Nahschuß bezieht sich auf die Todesart. Nachdem nämlich die herkömmliche, die Enthauptung mit der Guillotine, nicht immer klappte, zudem extrem blutig war, wurde der Nahschuß eingeführt, in dem der sonst Henker Genannte, von hinten mit der Pistole an den Verurteilten herantratt, der ihn also nicht sehen konnte, und direkt in den Kopf schoß. 

Das alles müssen Sie überhaupt nicht wissen, wenn Sie mit Franz Walter (Lars Eidinger) den Flieger betreten, der ihn auf Auslandseinsatz nach Äthiopien bringen soll. Doch es geht nicht los. Draußen sieht man Bewegung und innerhalb der Passagiere ist Rätselraten, was los ist: normalerweise ein schlechtes Zeichen, wenn Passagiere auf abflugbereiten Maschinen herausgeholt werden. Aber als sich herausstellt, daß es um Franz Walter geht, der die Maschine verlassen muß, zeigt dessen völlige Verständnislosigkeit, daß hier nicht Angst vor Entdeckung, sondern Sprachlosigkeit herrscht. Und so ist es auch: ihm wird angeboten, kurzfristig für ein Jahr beim Auslandsgeheimdienst der Stasi, der Hauptverwaltung Abwehr (HV A) zu arbeiten, um danach an der Hochschule die Nachfolge seiner Professorin anzutreten. Angeboten? Oktroyiert? Das bleibt im Film vage, ob sich Franz Walter auch dagegen hätte entscheiden können, ob er das als Karriere sieht oder immer Ja sagte, zu dem, was ihm von oben befohlen oder eben 'angeboten' wurde. Schließlich wäre ja auch möglich, daß er, Jahrgang 1942, also aufgewachsen in der sich konstituierenden DDR an diesem Arbeiter- und Bauernstaat geglaubt hatte. Oder ist er einfach naiver als die Polizei erlaubt und noch grün hinter den Ohren (witzig: heutzutage ist dieser alte Begriff schon politisch interpretierbar)? Über die Motive müssen wir uns aber keine Gedanken machen, wenn er rundheraus ja sagt zu seinem weiteren Leben, wie es die politische Führung des Landes für ihn vorgesehen hat.

Daß er aber nicht immer andere über sein Leben entscheiden läßt, ist der nächste Schritt, mit dem er - nun fest an die DDR gebunden - sich häuslich niederläßt: er heiratet seine Freundin Corinne, nun Corinne Walter (Luise Heyer). Die Hochzeit allerdings ist seltsam. Seine alten Weggefährten bleiben auf der Strecke, die Hochzeitsgäste kommen alle aus dem Stasi-Umfeld, was vor allem seinem regimekritischen Vater (Christian Redl) auffällt und negativ aufstößt. Und auch die neue Wohnung ist geräumiger, einfach großzügiger als der Normalschnitt. Wichtig zudem, daß sich Werner gut mit seinem Kollegen Dirk Hartmann (Devid Striesow) versteht, der sich erst als guter Kumpel präsentiert, dann aber als seine Art Führungsoffizier fungiert, bzw. Aufpasser.

Der Regisseurin und den Schauspielern gelingt es hervorragend, die Entwicklung des Helden subtil auf die Leinwand zu bringen. Wir können alles menschlich nachvollziehen. Erst den Stolz des jungen Mannes, es so früh geschafft zu haben, sein Glück mit seiner Freundin, die Nachdenklichkeit, zu der ihn sein Vater zwingt, die ersten Sprünge, wenn er in Dirk nicht mehr nur den Kollegen, sondern seinen Kontrolleur sieht - und dann zunehmend die Aufgaben, die er zu erfüllen hat und die ihn mehr und mehr in menschliche Konflikte stürzen. Insbesondere die Fahrt nach Hamburg, denn er gilt ja als zuverlässiger DDR-Stasi, noch zuverlässiger, sein Bewacher und linientreuerer Kollege Dirk, mit dem er in der BRD reisen darf, um den dort gebliebenen DDR-Fußballbspieler unter Druck zu setzen. Druck? Und wie. Denn jeder, der nicht in die DDR zurückkehrt oder von dort aus flieht, ist über seine in der Heimat Zurückgebliebenen potentiell erpreßbar. Franz Walter auf jeden Fall kann die Folgen der Erpressung des Fußballspielers nicht ertragen. Er kann nicht mehr, wird also unzuverlässig im Sinne der DDR....mit der Folge der Todesstrafe.

Eigentlich ist der Film gleichzeitig ein psychologisches Kammerspiel, denn er zeigt die Entwicklung eines Menschen, der sich verführen läßt, dann aufwacht, sein Tun nicht mehr verantworten kann und handelt. Das nun wiederum kann man auf jegliches System übertragen. 


Foto:
©Verleih

Info:
STAB
Regie & Drehbuch FRANZISKA STÜNKEL

BESETZUNG
Franz Walter LARS EIDINGER
Dirk Hartmann DEVID STRIESOW
Corina Walter LUISE HEYER
Klara PAULA KALENBERG
Schreiber PETER BENEDICT
Professorin Link VICTORIA TRAUTTMANSDORFF
Hagedorn ANDREAS SCHRÖDERS
Renner MORITZ JAHN
Wagner KAI WIESINGER
Panther PETER LOHMEYER
Hans Walter CHRISTIAN REDL
Margit Walter HEDI KRIEGESKOTTE
Bernd HENDRIK HEUTMANN