Bildschirmfoto 2021 08 20 um 00.03.59Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 19. August 2021, Teil 13

Redaktion

Berlin  (Weltexpresso) - Woher kommt Ihr Interesse an den Ärmsten?

Man weiß nie wirklich, warum man ein Thema wählt. Aber zwei Dinge empören mich zutiefst. Einerseits die Tatsache, dass die Reichtümer dieser Erde zunehmend von einer kleinen Bande von Gaunern vereinnahmt wird, die darauf auch noch sehr stolz sind. Andererseits bin ich wirklich verärgert über die Vorurteile, die besagen, dass die Armen, die Arbeitslosen, die Obdachlosen, Prostituierten usw. so oder so seien. Meine Tochter hat einmal gesagt: „Mein Vater macht Filme, in denen er versucht, Menschen zu verstehen, die wir nicht verstehen.“ Dieser Satz hat mich über meine, mir bis dahin unbewussten Absichten aufgeklärt. Ich wollte diese Leute kennenlernen, die ich auf der Straße oder in der U-Bahn traf und die wir nie direkt ansprechen – nur über die Verbände, die sich um sie kümmern. Ich wollte Zeit mit ihnen verbringen und nahm mir über ein Jahr lang meine Zeit dafür. Ich habe sie gefilmt: Die Obdachlosen markieren meinen Einstieg in den Dokumentarfilm und gaben meiner Arbeit eine neue Richtung.


Die Stadt Paris sieht überwältigend aus im Film: Der Kontrast zur Situation dieser Menschen wird dadurch noch auffälliger.

Ich habe die Stadt nicht verwandelt, ihre Pracht ist sehr real. Ich hätte woanders drehen können, aber Paris, gerade wegen seiner Schönheit und dieses Zusammenpralls vom Pomp mit der Armut spiegelt wie eine Metapher die Welt wider.


Christine und Suli, die Paris kreuz und quer von Nord nach Süd durchwandern, nehmen die Betrachter buchstäblich mit auf ihre Rundreise.

Bereits beim Schreiben stellten Olivier Brunhes und ich uns eine Odyssee vor. Paris zu durchqueren, stellt für eine Frau von der Straße eine echte Expedition dar. Es war auch die Gelegenheit, die Stadt zu kartieren: erst die schönen Stadtteile, dann immer beliebter werdende Orte und schließlich die Zelte am Kanal Saint Martin und die Flüchtlingslager an der Porte de la Chapelle ... Je weiter wir vorankommen, desto schockierender ist das Elend.


Christines Figur ist wie aus einem Märchen. In den ersten Einstellungen des Films erinnert sie an die Hexen aus dem 15. Jahrhundert ...

Catherine, die die gleiche Leidenschaft für das Malen hat wie ich, war sehr angetan, ihren Charakter so zu spielen. Wir stellten uns eine zeitlose, alterslose Frau vor, die seit jeher am Ufer der Seine lebt. Ein archetypisches Bild, das auch noch heute im 21. Jahrhundert glaubwürdig ist. „Das Ewige aus dem Vergänglichen ziehen“, wie Baudelaire sagte. Wir haben zusammen unglaublich viel über ihre Kostüme nachgedacht, ihre Art zu sprechen, sich zu bewegen. Es war eine wundervolle Zusammenarbeit, eine gemeinsame Kreativität.

Außerdem war es war auch sehr wichtig, dass der Film humorvoll ist, denn das Leben ist eine Tragikomödie. Ich glaube, dass Menschen selbst in den schlimmsten Momenten ihres Lebens in Lachen ausbrechen. Chaplin, besonders in LE KID, war davon nie weit entfernt. Und „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“ von Hans Christian Andersen, das eine Referenz für Catherine und mich war. Deshalb wollte ich, dass Christine und Suli ihre Gesichter zum ersten Mal im aufflammenden Licht eines Streichholzes sehen.


Der magische Realismus zeigt sich auch, als Suli vor einer Kirche eine Erscheinung seiner Mutter sieht, daneben ein Landstreicher, der ein Schubert-Lied singt.

Seit der Aufklärung haben wir uns von Geistern und Träumen entfernt. Aber die Wirklichkeit ist auch aus Träumereien gemacht. Ich sehnte mich nach dieser magischen Nacht, in der Suli glaubt, seine Mutter zu sehen. Wir befinden uns in einem Bild von Epinal de Montmartre mit diesem einarmigen Landstreicher, der „Der Leiermann“ von Schubert singt. Ich bin von der großen Schönheit dieses Liedes überwältigt, das nach dem Elend, dem Umherirren und dem Tod fragt. Von der Musik getragen, folgt das Kind dieser Chimäre, die er für seine Mutter hält. Und verliert sich.


Wie haben Sie diese besondere Ästhetik des Films entwickelt?

Meine Hauptinspirationsquellen sind Malerei und Musik. Ich habe viel an Maler gedacht, die ich besonders schätze – Rembrandt, Caravaggio, Georges de la Tour und sogar Francis Bacon ... Und genauso wie diese großen Maler bewundere ich Sylvain Lesers Werk – Leser, der Fotograf, der die Bilder für meine Dokumentarfilme macht. Wir haben viel über diese Referenzen mit Philippe Guilbert, dem Kameramann des Films, gesprochen. Sein Beitrag war riesig.


Sie haben Ihre gemeinsamen Reflektionen mit Catherine Frot über die Kostüme erwähnt. Wie haben Sie sich mit ihr auf den Film vorbereitet?

Ich brachte sie an Orte, die ich gut kenne, wo die Obdachlosen herumhängen, Treffpunkte, Orte, an denen Essen ausgegeben wird – wie die Kirche Saint-Leu-Saint-Gilles, im 1. Arrondissement von Paris, wo Arme schon sehr lange willkommen geheißen werden.
Jeden Samstagmorgen gibt es dort ein Frühstück, das wir im Film sehen. Es war sehr wichtig für sie, echt zu sein, und ich fand es wunderbar, wie sie sich in diese Umgebung einfügte. Sie hat diesen Charakter wirklich entwickelt.

Die Christine von UNTER DEN STERNEN VON PARIS ist letztendlich ziemlich weit von AU BORD DU MONDE entfernt.


Wie war Catherine Frot am Set?

Sie hat viel eingebracht. Das Projekt lag ihr sehr am Herzen, sie war sehr anspruchsvoll. Sie wollte den Menschen, von denen der Film direkt oder indirekt inspiriert wurde, gerecht werden; ihre Würde bewahren.


Wie haben Sie Mahamadou gefunden, den kleinen Jungen, der Suli spielt?

Ich habe 100 Kinder gesehen, die Marlène Serour auf der Straße, in Sportvereinen und Theaterschulen gefunden hatte. Der, den ich für die Rolle nehmen wollte, musste berührend sein, sehr lebhaft und vor allem musste er fließend eine afrikanische Sprache sprechen. Mahamadou, dessen Familie malischen Ursprungs ist, übt regelmäßig Bambara. Er hat sich sehr schnell durchgesetzt. Er konnte sofort mit dem Fakt umgehen, dass Suli kein Französisch verstand. „Er versteht die Worte nicht“, sagte er mir, „er versteht die Emotionen“. Ich war beeindruckt von der Intelligenz dieses neunjährigen Jungen. Ich habe Probeaufnahmen mit ihm und Catherine gemacht, zwischen den beiden entstand sofort eine Verbindung.


Wie haben Sie mit ihm gearbeitet?

Ich musste mich gleichzeitig darum kümmern, seine Frische zu bewahren, aber ihm auch einige Grundlagen beibringen. Maryam Muradian hat mit ihm trainiert, indem sie ihn mit seinen Gefühlen, mit Kälte, mit der Angst arbeiten ließ. Er eignete sich ein Können an, ohne sich an die Szenen zu gewöhnen, die er drehen musste. Weil es immer das Risiko eines zu mechanischen Spielens gibt, wenn die Szenen zu auswendig gelernt werden.


In dem Film spielen viele Laiendarsteller mit ...

Ich wollte die Leute von der Straße einbeziehen, die ich kannte, damit sie ihre eigene Rolle spielen könnten. Es ist jedoch nicht immer einfach, einen festen Termin mit Menschen zu vereinbaren, die komplett außerhalb des Rhythmus der modernen Gesellschaft leben. Also, was bei einem Dokumentarfilm möglich ist (wo Sie sich an die Bereitwilligkeit der Menschen anpassen können, die Sie filmen wollen), geht bei einem Spielfilm, wo die Zwänge eines Arbeitsplans regieren, nicht. Wir gingen also in Theaterclubs, die für die Menschen auf der Straße initiiert wurden. Da sind Obdachlose, die es gewohnt sind, regelmäßig zu den Proben zu kommen. Wir konnten also davon ausgehen, dass sie zu den Terminen kommen würden, die wir für sie vereinbart hatten. Beim Frühstück von Saint-Leu, konnten wir mit echten Gästen arbeiten, da wir nach einer regulären Essensausteilung drehen konnten. Die Leute waren also schon da. Wir haben nur denjenigen, die am Film teilnehmen wollten, angeboten länger zu bleiben und dann ihren Beitrag zu leisten.

CLAUS DREXEL – BIOGRAFIE

Claus Drexel kommt aus Bayern. Er lebt und arbeitet hauptsächlich in Frankreich. Drexel studierte Film in Paris (ESRA Filmschule). Er drehte drei Kurzfilme: C4 (1996), MAX AU BLOC (1998) und LA DIVINE INSPIRATION (2000) mit Keir Dullea (Hauptdarsteller von 2001 – ODYSSEE IM WELTRAUM). Seine Filme wurden für mehr als 100 Festivals auf fünf Kontinenten ausgewählt und gewannen zahlreiche Preise.

Sein erster Spielfilm, AFFAIRE DE FAMILLE mit André Dussollier und Miou-Miou, kam 2008 ins Kino. Das Drehbuch gewann die „Premier Scénario Trophies“ von CNC und mehrere Festivalpreise.
2012 leitete er die Inszenierung der Matthäus-Passion von J. S. Bach im Zirkus d’Hiver von Paris mit Didier Sandre in der Rolle des Evangelisten. AU BORD DU MONDE, sein Dokumentarfilm über Obdachlose in Paris, wurde 2013 in der ACID-Sektion in Cannes gezeigt. Der Film wurde für den Louis-Delluc-Preis nominiert und gewann zahlreiche Auszeichnungen bei Festivals, darunter den FIPRESCI-Journalisten-Preis in Thessaloniki. Im Herbst 2016 zog Claus Drexel in eine abgelegene Kleinstadt in Arizona, um AMERICA, einen Dokumentarfilm über die US-Präsidentschaftswahlen zu drehen.

FILMOGRAFIE

2020 UNTER DEN STERNEN VON PARIS
2018 AMERICA (Dokumentarfilm)
2014 AU BORD DU MONDE (Dokumentarfilm)
2013 DIE DEUTSCHE NACHT
2008 FAMILIENAFFÄRE

Foto:
©Verleih

Info:
BESETZUNG
Christine   Catherine Frot
Suli  Mahamadou Yaffa
Patrick  Jean-Henri Compère
Mama  Richna Louve
Hafenarbeiter  Raphaël Thiéry
Junger Obachloser Baptiste Amann
Doktorin Farida Rahouadj
und Dominique Frot

STAB
Regie Claus Drexel
Drehbuch Claus Drexel und Olivier Brunhes

Abdruck aus dem Presseheft