Bildschirmfoto 2021 08 20 um 00.42.27Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 19. August 2021, Teil 12

Redaktion

Berlin (Weltexpresso) - Wie kamen Sie auf die Idee, eine Geschichte über zwei auf der Straße lebende Menschen zu erzählen?

Nach AU BORD DU MONDE, einem Dokumentarfilm über Obdachlose, dachte ich über eine fiktionale Geschichte über dieses Phänomen nach. Ich fühle mich diesen Menschen, die oft allzu oberflächlich dargestellt werden, sehr nahe. Ich wollte ihre Schönheit, ihre Sensibilität und ihre Poesie herausstellen. Catherine Frot, die von AU BORD DU MONDE sehr berührt war, kontaktierte mich damals. Ziemlich bald diskutierten wir über die Möglichkeit eines Filmprojekts, das diese Qualitäten zeigen könnte.


Christine, die Rolle von Catherine Frot, erinnert an die Christine in Ihrem Dokumentarfilm. Eine ziemlich untypische Persönlichkeit.

Catherine war, wie auch ich, von diesem Porträt inspiriert. Olivier Brunhes, mein Freund und Co-Drehbuchautor, und ich gingen beim Schreiben von dieser Figur aus.


Hat Catherine Frot am Drehbuch mitgeschrieben?

Sie hatte großen Respekt vor unserer Arbeit und wollte, dass Olivier und ich schreiben können, ohne dass sie uns andauernd über die Schultern schaut.


UNTER DEN STERNEN VON PARIS beginnt mit einer langen Einführung von Christine. Wir sehen sie am Ufer entlangspazieren; wir sehen sie an dem Ort, den sie als Unterschlupf gewählt hat ... Warum so eine detaillierte Vorstellung?

Es war uns sehr wichtig, das alltägliche Leben von Obdachlosen zu zeigen und den Zuschauer in diese Langsamkeit, die Teil ihrer Tage ist, einzuführen. Es ist wie ein Ritual, mit sehr genauen Abläufen. Sie sind immer zur gleichen Zeit an denselben Orten. Das wollte ich zeigen, diese Augenblicke der Begegnung, der Einsamkeit.


Bis Christine auf Suli traf, den kleinen Flüchtling, der von seiner Mutter getrennt wurde, wirkt sie wie von der Welt abgeschnitten.

Sie ist eine gebrochene Person, die innerlich fast gestorben ist und die eine Mauer zwischen sich und den anderen errichtet hat. Sie redet mit niemandem mehr, sie ist es gar nicht mehr gewohnt, zu sprechen.


Wir verstehen, dass Christines Feindseligkeit dem kleinen Jungen gegenüber auf ihre aktuelle psychische Verfassung zurückgeht, aber auch auf einen schon älteren Schmerz, der mit einem Kind zusammenhängt. Mehr erfahren wir nicht.

Wir wollen immer wissen, warum Menschen, die auf der Straße leben, dahin gekommen sind. Nun, ich bin mir nicht sicher, ob sie es selbst artikulieren können. Es ist zu komplex. Diese Personen erinnern mich an Kolosse auf tönernen Füßen: Sie sind durch einen Riss geschwächt, der oft auf ihre frühe Kindheit zurückgeht; für eine Weile schaffen sie es, ihr Leben hinzukriegen, und plötzlich stört ein Ereignis, das trivial erscheinen mag, dieses instabile Gleichgewicht, und ihr Leben gerät aus den Fugen. Wie in AU BORD DU MONDE wollte ich vor allem das Wesen von Christine zeigen, anstatt sie zu analysieren. Jeder kann sich selbst eine Vorstellung davon machen, was sie durchgemacht hat.


Wir können sehen, dass sie sich für Wissenschaft interessiert, wir erfahren später, dass sie eine Forscherin war...

Es wird allgemein angenommen, dass Obdachlose Menschen sind, die verloren, vulgär, betrunken sind und sich schlecht ausdrücken können. Das sind Missverständnisse, die bekämpft werden müssen. Diese Leute hatten ein Leben vor der Straße und sie haben noch immer eins: Sie lesen oft viel und sind viel kultivierter, als man denkt. Ich habe viel von den Menschen auf der Straße gelernt.


Flüchtlinge nehmen im Film einen sehr wichtigen Platz ein.

Vor und während des Schreibens haben Olivier Brunhes und ich viel Zeit im „Dschungel“ von Nordfrankreich mit ihnen verbracht. Wir hatten von Anfang an die Idee, dieses Thema ins Drehbuch zu integrieren, weil es uns unmöglich schien, das Thema gesellschaftliche Ausgrenzung zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu behandeln, ohne die Migrationskrise zu erwähnen. Wir waren sehr von einer Frau beeindruckt, die von ihren sehr kleinen Kindern begleitet wurden. Wir fragten uns, was mit ihnen passieren würde, wenn sie auf brutale Weise von ihrer Mutter getrennt würden. Die Figur von Suli, dem kleinen Jungen, der sich ganz alleine mit Christine als einziger Bezugsperson wiederfindet, entstand dort.


„Ich hier, du dort“, sagt Christine zu Suli, als sie akzeptiert, dass er eine Nacht in ihrem Schlupfwinkel verbringt. Aber die Distanz, die sie dem Kind gegenüber wahren möchte, bröckelt allmählich von dem Moment an, in dem sie beschließt, mit ihm nach seiner Mutter zu suchen. Zum ersten Mal leuchtet ihr Gesicht auf.

Christine ist berührt, sobald sie Suli wahrnimmt, aber sie verbietet sich dieses Gefühl. Allmählich, ohne es wahrzunehmen, lernt sie wieder, eine Verbindung einzugehen. Es ist diese Geste, dass sie ihn in ihren Mantel einwickelt, während sie sich darauf vorbereiten, die Nacht in der Nähe der Sacre Coeur zu verbringen oder dieser herzzerreißende Schrei, den sie ausstößt, als sie glaubt, ihn verloren zu haben. Dank Suli kommt Christine ins Leben zurück und findet ihre eigene Menschlichkeit wieder.


Sie zeigen Menschen, die Verständnis für Obdachlose wie Christine zeigen, aber sehr migrantenfeindlich sind ...

Alle Charaktere im Film sind mehr oder weniger direkt von Menschen inspiriert, die ich im wirklichen Leben getroffen habe: Ich habe tatsächlich Gespräche geführt mit Menschen, die eine große Hilfsbereitschaft bei Mitbürgern zeigen, aber geradezu feindselig Ausländern gegenüber sind.

Diese Gespaltenheit hat mich besonders verblüfft, als ich in einer kleinen Stadt in Arizona war, in der ich während der US-Präsidentschaftswahlen 2016 meinen zweiten Dokumentarfilm AMERICA gedreht habe. Ich habe selten so viel Solidarität gesehen wie zwischen den Bewohnern dieser kleinen Stadt. Hatte eine behinderte Person ein Problem? Die ganze Stadt war da, um zu helfen. Aber wenn es um Ausländer ging, die Mauer, die zu Mexiko hin gebaut werden sollte, war ihre Haltung eine ganz andere: Sie mussten sich unbedingt vor den Eindringlingen schützen.

Umgekehrt habe ich im „Dschungel“ der Flüchtlinge Taten von riesiger Großzügigkeit gesehen, wie von dieser Frau, die von Sozialhilfe lebte, aber jeden Tag kam, um die Wäsche der Migranten abzuholen und am nächsten Tag zurückzubringen, gewaschen und gebügelt.


Sie weisen auf diese unterschiedlichen Einstellungen hin, aber Sie beurteilen sie nicht ...

Das Leben ist zu komplex, als dass jemand davon ausgehen könnte, dass die eine Person recht hat und die andere nicht. Jeder hat seine eigenen Erfahrungen gemacht, die ihn auf die eine oder andere Weise handeln lassen. Aus dieser Beobachtung ist die Figur des Hafenarbeiters entstanden, der Christine gegenüber großzügig ist, aber rassistisch gegenüber Suli. Gleichzeitig hat die Figur der Putzfrau am Flughafen bereits einen Schritt weiter gemacht: Anfangs glauben wir, dass sie Christine und das Kind denunzieren wird, aber sie holt stattdessen Hilfe. Es ist wunderbar zu wissen, dass Menschen jeden Tag diese großzügigen Dinge tun. Ich habe viele von ihnen getroffen.

Fortsetzung folgt



CLAUS DREXEL – BIOGRAFIE

Claus Drexel kommt aus Bayern. Er lebt und arbeitet hauptsächlich in Frankreich. Drexel studierte Film in Paris (ESRA Filmschule). Er drehte drei Kurzfilme: C4 (1996), MAX AU BLOC (1998) und LA DIVINE INSPIRATION (2000) mit Keir Dullea (Hauptdarsteller von 2001 – ODYSSEE IM WELTRAUM). Seine Filme wurden für mehr als 100 Festivals auf fünf Kontinenten ausgewählt und gewannen zahlreiche Preise.

Sein erster Spielfilm, AFFAIRE DE FAMILLE mit André Dussollier und Miou-Miou, kam 2008 ins Kino. Das Drehbuch gewann die „Premier Scénario Trophies“ von CNC und mehrere Festivalpreise.
2012 leitete er die Inszenierung der Matthäus-Passion von J. S. Bach im Zirkus d’Hiver von Paris mit Didier Sandre in der Rolle des Evangelisten. AU BORD DU MONDE, sein Dokumentarfilm über Obdachlose in Paris, wurde 2013 in der ACID-Sektion in Cannes gezeigt. Der Film wurde für den Louis-Delluc-Preis nominiert und gewann zahlreiche Auszeichnungen bei Festivals, darunter den FIPRESCI-Journalisten-Preis in Thessaloniki. Im Herbst 2016 zog Claus Drexel in eine abgelegene Kleinstadt in Arizona, um AMERICA, einen Dokumentarfilm über die US-Präsidentschaftswahlen zu drehen.

FILMOGRAFIE

2020 UNTER DEN STERNEN VON PARIS
2018 AMERICA (Dokumentarfilm)
2014 AU BORD DU MONDE (Dokumentarfilm)
2013 DIE DEUTSCHE NACHT
2008 FAMILIENAFFÄRE

Foto:
©Verleih

Info:
BESETZUNG
Christine   Catherine Frot
Suli  Mahamadou Yaffa
Patrick  Jean-Henri Compère
Mama  Richna Louve
Hafenarbeiter  Raphaël Thiéry
Junger Obachloser Baptiste Amann
Doktorin Farida Rahouadj
und Dominique Frot

STAB
Regie Claus Drexel
Drehbuch Claus Drexel und Olivier Brunhes

Abdruck aus dem Presseheft