Bildschirmfoto 2021 09 17 um 01.17.37Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 16. September 2021, Teil 6

Corinne Elsesser

München (Weltexpresso) - Die nordhessische Kleinstadt Stadtallendorf ist seit Jahrzehnten von Einwanderung geprägt. Gleich am Beginn des Dokumentarfilms von Maria Speth zeigt eine Kamerafahrt die am Morgen noch dunklen winterlichen Strassen. Die Fenster einer türkischen Bäckerei sind bereits hell erleuchtet, daneben ein Friseurladen, und der Kiosk öffnet gerade. Langsam dämmert es, als ein Schulbus vorfährt und Kinder aussteigen, immer mehr Kinder - es ist Schulbeginn an der Georg Büchner Gesamtschule. Die Kamera folgt ihnen über den Schulhof, ins Schulgebäude und ins Klassenzimmer, wo Dieter Bachmann die Klasse 6b unterrichten wird.

Das war ungefähr der Weg, den der Lehrer an seinem ersten Tag im Winter vor 17 Jahren selbst gegangen ist, um unvermittelt schon im Schulhof von ein paar Schülern gefragt zu werden, ob er der neue sei. Da habe er keine Zweifel mehr gehabt, ob er das Lehrersein überhaupt wolle. Schliesslich hatte er sich bis dahin als Aussteiger verstanden, war Folksänger und Bildhauer. Als er heiratete, sagt er später einmal, habe ja einer das Geld verdienen müssen.

Das Klassenzimmer der 6b wirkt wie ein gemütliches Wohnzimmer. Allerlei dekorative Gegenstände finden sich hier, Holzskulpturen, Musikinstrumente. Alles wirkt persönlich und vertraut und die Kinder lernen in der Eingangsstufe der Gesamtschule nicht nur Bruchrechnen und Grammatik, sondern auch Gitarre, Schlagzeug und Jonglieren. Bachmann ist mit Leidenschaft dabei und zuweilen nur an seiner Strickmütze irgendwo im Raum auszumachen. Er nimmt seine Schützlinge wunderbar mit und bleibt dennoch Autoritätsperson.

In den Pausen hört man Türkisch, Russisch, Bulgarisch und Italienisch und so spiegelt die Zusammensetzung der Klasse, an deren Ende die Schüler auf drei Schulzweige aufgeteilt werden, die kulturelle Heterogenität der nordhessischen Stadt wider. Von den 21,000 Einwohnern weisen 70% einen Migrationshintergrund auf. Schon während des Nationalsozialismus kamen Zwangsarbeiter aus Osteuropa, die in der europaweit grössten Sprengstofffabrik arbeiten mussten, nach dem 2. Weltkrieg dann Gastarbeiter aus Südeuropa und heute im Zuge der Personenfreizügigkeit Einwanderer aus vielen verschiedenen Nationen.

Regisseurin Maria Speth ist eine dokumentarische Studie gelungen, die ausgehend von einer Schulklasse das Leben in einer Kleinstadt und deren Geschichte nahebringt. Viel ist der exzellenten Kameraführung von Reinhold Vorschneider zu verdanken, der bereits in Spielfilmen wie "Wild" (Regie: Nicolette Krebitz) oder „Die Lügen der Sieger“ (Regie: Christoph Hochhäusler) überzeugte. Zusammen mit Maria Speth hat er am Drehbuch mitgewirkt. Mit stillen Bildern, durchmischt mit fotografischen Eindrücken von der Stadt und ihrer jahreszeitlichen Umgebung, gelingt visuell eine Balance zu dem oft wilden Durcheinander im Klassenraum.

So vergehen die 217 Minuten Länge des Films wie im Flug und am Ende hat der Zuschauer die Kinder ein wenig besser kennengelernt. Auf der diesjährigen Berlinale wurde "Herr Bachmann und seine Klasse" ungewöhnlicherweise als Dokumentarfilm in den Wettbewerb aufgenommen und erhielt mit dem Silbernen Bären sogleich die zweithöchste Auszeichnung des Festivals.

Foto:
©Verleih

Info:
Herr Bachmann und seine Klasse, Deutschland, 2021
Regie: Maria Speth
Kamera: Reinhold Vorschneider
Drehbuch: Maria Speth, Reinhold Vorschneider
Dokumentarfilm, 217 Min.