Bildschirmfoto 2021 11 17 um 21.44.03Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 18. November 2021, Teil 9

Karin Schiefer

Berlin/Wien (Weltexpresso) - Was war der Ausgangspunkt, der Anstoß zu „Große Freiheit“, mit dem fast ausschließlichen Setting im Gefängnis?

SEBASTIAN MEISE: Was für Thomas Reider und mich am Anfang stand, war der Gedanke: Stell dir vor, du lebst in einer Welt, in der Liebe per Gesetz verboten ist und mit Gefängnis bestraft wird. Das klang für uns wie eine Dystopie, die uns an Orwells 1984 denken ließ. Dafür wollten wir eine Form finden. Hans‘ Lebensgeschichte auf seine Stationen im Gefängnis zu fokussieren, schien uns der richtige Weg, eine universelle Geschichte zu erzählen. Mauern, Gitterstäbe, und Uniformen sind zu jeder Zeit, an jedem Ort dieselben. Ähnlich einer Dystopie ist ein Gefängnis ein Un-Ort, ein Nirgendwo. Und ähnlich einer Dystopie handeln Gefängnisgeschichten stets von Individuen im Kräfteverhältnis körperlicher und seelischer Gewalt.


Gibt es eine reale Figur, die Sie zu Ihrer Hauptfigur Hans Hoffmann inspiriert hat?

SEBASTIAN MEISE: Ausgangspunkt für Hans‘ Geschichte waren reale Fälle schwuler Männer, die von den Alliierten aus dem KZ befreit, von dort aber direkt ins Gefängnis überstellt wurden, um ihre Reststrafe laut §175 abzusitzen. Die Verfolgung war für sie nicht vorbei, denn Homosexualität blieb bis weit in die Nachkriegszeit hinein illegal. Es ist kaum zu glauben, mit welcher Akribie, welchem Einfallsreichtum und abstrusem Aufwand der Staat zahllosen, völlig harmlosen Männern hinterherjagte. Erst das Stöbern in Archiven und Gespräche mit Zeitzeugen eröffneten uns das gesamte absurde Ausmaß der Verfolgung, das in unserem geschichtlichen Bewusstsein so gut wie nicht vorhanden ist, obwohl es so weitreichend war, dass es bis heute nachwirkt. Unsere Hauptfigur Hans steht dabei fast exemplarisch für die zahllosen Schicksale von Menschen, die immer wieder unschuldig im Gefängnis landeten, deren Existenzen und Beziehungen zerstört wurden und deren Geschichten in den Akten der Bürokratie verschwanden.


Wie entstand aus dieser historischen Gemengelage die Struktur der Geschichte?

SEBASTIAN MEISE: Unsere Grundidee war, Hans‘ Geschichte anhand seiner Gefängnisaufenthalte zu erzählen. Das Gefängnis ist die wiederkehrende Konstante in Hans‘ Leben, die für ihn zu einer nicht enden wollenden Zeitschleife wird. Die Dunkelheit der Isolationszelle wird dabei zu einer Art Wurmloch, in dem wir mit ihm durch die wichtigen Stationen seines Lebens reisen. Das führte uns zu der achronologischen Erzählweise. Hans befindet sich in einem seltsam unauflösbarem Zustand: Kaum ist er in Freiheit, wird er auch schon wieder verfolgt. Es wird ihm letztlich also sein Leben verboten, denn er kann ja nicht einfach aufhören, zu sein, wer er ist. Das beinhaltet aber auch eine ungeplante Rebellion, die ihn immer wieder an diesen Ort führt.


Wo er immer wieder auf einen verurteilten Mörder trifft.


SEBASTIAN MEISE: Viktor ist mit diesem Ort verwachsen. Als Mörder verbüßt er eine lebenslange Haftstrafe. Er mag einem zunächst als grob und brutal erscheinen, in seinem Wesen ist er jedoch so zerbrechlich und einsam wie alle Menschen. Auch Hans ist im Grunde ein lebenslänglich Verurteilter und ausgerechnet in Viktor findet er einen Vertrauten und die Akzeptanz, die ihm die Gesellschaft nicht zugestehen will. Im Lauf der Jahre treffen sich diese beiden geächteten Männer immer wieder und so grundverschieden sie auch sein mögen, haben sie das gemeinsam, was uns vermutlich alle verbindet: die Sehnsucht nach menschlicher Nähe, Zuneigung und Zärtlichkeit.


Die Rückblicke in die Freiheit erzählen Sie über Super8-Bilder, die zum einen von einer Überwachungskamera, zum anderen über private Aufzeichnungen kommen. Welche Gedanken stehen hinter dieser Entscheidung?

SEBASTIAN MEISE: Diese Form der Kameraüberwachung gab es wirklich. Da die Liebe zwischen Männern kriminalisiert war, mussten sich schwule Männer Orte schaffen, an denen zumindest flüchtige Begegnungen stattfinden konnten. Das waren unter anderem sogenannte ‚Klappen‘, öffentliche Männertoiletten, die von der Sittenpolizei eifrig und mit großem Ideenreichtum ausgeforscht wurden. Durch halbdurchlässige Spion-Spiegel wurden hier heimlich Filmaufnahmen erstellt, die vor Gericht als Beweismittel dienten. Diese Aufnahmen sind zum Teil erhalten, nicht aus Deutschland, aber aus den USA. Wenn man sie sich anschaut, wird man unweigerlich mit der Frage konfrontiert, wer hier eigentlich pervers ist.

Als wir diese Aufnahmen gesehen haben, wussten wir sofort, dass das der Beginn unseres Films sein sollte, weil dadurch viele Ebenen entstehen, die mich am Filmemachen immer interessiert haben. In einem projizierten Film beobachten wir einen Kameramann dabei, wie er heimlich Filmaufnahmen von intimen Begegnungen macht. Der Kameramann, der sich auf unserer Seite der halbdurchlässigen Scheibe spiegelt, wirft den Blick auf uns selbst zurück und führt uns vor, was für eine voyeuristische Angelegenheit das Medium Film im Grunde ist.

Hinter den privaten Super 8-Aufnahmen von Hans und Oskar stand dieselbe Überlegung der Verletzung von Privatheit, die in unserer Geschichte eine große Rolle spielt. Die Frage, wie viel Privatheit dem Einzelnen zugestanden wird, ist eine, die auch uns heute beschäftigt, immer stärker sehen wir uns konfrontiert mit einem Blick, der das Explizite sucht. Er dringt in das Private ein, um auszuforschen, zu ordnen und zu kontrollieren.

Fortsetzung folgt

Foto:
©Verleih

Info:
Darsteller
Franz Rogowski, Georg Friedrich, Anton von Lucke, Thomas Prenn

Stab
Drehbuch: Thomas Reider, Sebastian Meise
Regie Sebastian Meise
Bildgestaltung Crystel Fournier

Interview: Karin Schiefer im Juni 2021
Abdruck aus dem Presseheft