Redaktion
Tessin (Weltexpresso) - Wie bereitet man sich auf eine historisch bekannte Figur wie Otto Gross vor, der u.a. ja Schüler von Sigmund Freud war?
Das Spezielle bei diesem Projekt war, dass ich sehr früh besetzt wurde. Das war ein Vorteil, weil man so auch die Entwicklung des Drehbuchs verfolgen und ich mich mit jeder Fassung noch stärker mit der Figur auseinandersetzen konnte: Ich versuche mir dabei eine gewisse Körperlichkeit vorzustellen und diese auszuprobieren. Ich frage mich, wieviel Augenkontakt die Figur hat, wie sie agiert und reagiert, wie sicher oder unsicher sie sich gibt...
Otto Gross hat zum Glück zahlreiche Dokumente hinterlassen und es wurde viel über ihn geschrieben. All das konnte ich zur ausgiebigen Recherche nutzen. Und toll war auch das Gespräch mit dem Otto Gross-Experten Emanuel Hurwitz. Er ist selber Psychiater und eine absolute Koryphäe auf diesem Gebiet, zudem hat er ein Buch über Gross geschrieben. Ihm Fragen stellen zu können, war enorm hilfreich, da er all die Ambivalenzen ausgelotet hat, die meine Figur ausmachen.
Das Wichtige bei dieser intensiven Recherche ist aber, dass man nicht in Versuchung gerät, eine Figur aufgrund der theoretischen Erkenntnisse 1:1 nachzuspielen, sondern dass man etwas Neues entstehen lässt.
Wichtig waren auch die Proben auf dem Monte Verità. Dass es überhaupt Proben gab und dann noch während Corona war ein großes Glück. So waren wir Hauptdarsteller*innen gemeinsam mit Regisseur Stefan Jäger längere Zeit an dem Ursprungsort, wo alles begonnen hat und suchten dort nach inneren und äußeren Wahrheiten.
Besonders wichtig für meine Figur war zudem der Wiener Dialekt, den ich mir für diese Figur aneignen musste. Unterstützt hat mich die großartige Dialektcoach Susi Stach, mit der ich über mehrere Monate zweimal wöchentlich alle Dialoge durchgegangen bin. Das war ein äußerst wichtiger Teil der Vorbereitung.
Wie lässt man die Widersprüche und Ambivalenzen zu, die einer solchen Biographie innewohnen?
Die größte Herausforderung bei einer solchen Arbeit ist es, eine Kombination aus eigenen Erlebnissen und eigener Vergangenheit zu schaffen und das mit dem Recherche-Material zu kombinieren.
Dabei soll es auch nicht zu privat werden, denn dann würde man der historischen Figur nicht gerecht.
Wichtig ist es, dass man anfängt, die Figur zu mögen und Empathie zu empfinden für den Menschen in seiner ganzen Widersprüchlichkeit, die ja jeder von uns in sich trägt. Vielleicht nicht so ausgeprägt wie bei Dr. Gross, aber doch so, dass man daran anknüpfen kann. Diese beiden Herangehensweisen miteinander zu kombinieren, hat es mir ermöglicht, die Ambivalenz in seiner Figur zuzulassen.
Was glaubt Du, hat Otto Gross damals auf dem Monte Verità gesucht?
Ich glaube, er hat ganz viel gesucht: Er ist bestimmt auch da hochgegangen, um Antworten zu finden auf die Beziehung zu seinem Vater, auf die Beziehung zu sich selbst. Er hat bestimmt versucht, seine Therapien weiter zu entwickeln. Vielleicht auch eine Suche nach Selbstoptimierung. Man kann sich natürlich darüber streiten, ob ihm das gelungen ist...
Es war bei ihm immer auch eine grosse Sehnsucht nach Freiheit und nach dem Ausbruch aus der Bourgeoisie, aus den Normen. Er hat auch etwas Neues gesucht, etwas Unbekanntes - eine Zeitlang hat er das vielleicht in seiner Drogenabhängigkeit gefunden. Letzten Endes war er ja auch auf dem Monte Verità, um von seiner Sucht wegzukommen.
Was fasziniert Dich aus heutiger Sicht an einer Figur wie Otto Gross?
Dass es ein sehr moderner Gedanke ist, Therapien auf diese Art und Weise zu führen. Ich spreche jetzt nicht davon, dass Gross mit seinen Patientinnen intim wurde, aber zu sagen, dass eine Therapie nicht zwingend liegend gemacht werden muss, sondern dass es auch möglich ist, im Freien zu therapieren oder sich in die Augen zu schauen, aufrecht zu sitzen und sich auf Augenhöhe zu begegnen... Das finde ich einen unfassbar modernen Gedanken und wird zum Glück ja heute in vielen Therapien so gehandhabt.
Wie hast Du den Monte Verità heute erlebt?
Dadurch, dass ich sehr lange Zeit zuvor in Berlin war, auch durch die Covid-Situation und dadurch, dass ich nicht rauskonnte während des Lockdowns in Deutschland, war der Monte Verità für mich eine Wiedervereinigung mit der Natur. Was ich früher immer für selbstverständlich genommen habe, als Kind – in der Schweiz aufgewachsen und viel im Freien – fand ich nun plötzlich wieder faszinierend neu. Auch durch die vielen Aussendrehs bei diesem Film... Ich hab mir einen Roller gemietet, war in den Drehpausen häufig im Tessin unterwegs und hatte dadurch das Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit. Aus einer Leichtigkeit heraus zu arbeiten – das ist das Schönste, was einem passieren kann und hat diese Dreharbeiten zu etwas sehr Besonderem gemacht. - 16 - MONTE VERITÀ – Interview: Fünf Fragen an Stefan Jäger, Regisseur Warum glaubst Du, ist der Stoff heute noch relevant? Was die Gründer auf dem Monte Verità gesucht haben, ist die Auseinandersetzung mit Themen, die auch heute noch brennend aktuell sind: - Wie können wir im Einklang mit der Natur leben? - Wie kann man sich in einer Gruppe für das Gemeinwohl einsetzen, dabei aber auch dem Individuum die freie Entfaltung ermöglichen? - Wie wird die Seele gesund? - Welchen Einfluss hat die Ernährung auf unser Wohlbefinden? - Wie geht man mit dem um sich greifenden Wandel um, der den menschlichen Geist erschüttert? - Was kann eine Gesellschaft aus den Utopien von wenigen lernen und braucht es solche Utopien, um einen grösseren Wandel einzuleiten? Heute mehr denn je? Wie siehst Du die historischen Figuren, die im Film dargestellt werden, aus heutiger Sicht? Die Gründerin Ida Hofmann war eine Frauenrechtlerin und kämpfte vehement für die Selbstentfaltung des Individuums. Sie rannte damals gegen zahlreiche Widerstände an, selbst innerhalb der Gruppe der Gründer*innen kam es aufgrund ihrer radikalen Ansichten und Forderungen zu Konflikten. Der Arzt Otto Gross war ein Verfechter der Sterbehilfe, aber auch ein umstrittener Psychoanalytiker, dessen Empathie zu seinen Patientinnen schon damals für Skandale sorgte. Aus heutiger Sicht ist er eine Figur, die in ihrer Ambivalenz extrem polarisieren würde. Lotte Hattemer, die Tochter des Berliner Bürgermeisters und ebenfalls Mitgründerin des Monte Verità, suchte in ihrer radikalen Zivilisationsverweigerung einen Weg zurück in die Natur, mit der sie eins sein wollte. Sie steht damit auch für viele Menschen, die sich in unserer Gegenwart nach etwas sehnen, das sie von den gesellschaftlichen Zwängen befreit. Isadora Duncan war eine der ersten modernen Tänzerinnen. Sie suchte als Künstlerin einen Weg, den noch niemand vor ihr beschritten hatte. Hermann Hesse fand auf dem Berg der Wahrheit seine innere Wahrheit, die sein Schaffen Zeit seines Lebens prägte und mit der er uns bis heute berührt. Die vegane Ernährungsform auf dem Monte Verità, die Offenheit gegenüber jeglicher Gesinnung, der Versuch im Einklang mit der Natur zu leben und die Einflüsse auf viele weitere Künstlerkolonien in ganz Europa machten das Sanatorium zu einem Leuchtturm, dessen Licht bis heute spürbar ist. - 17 - Hat sich bei Dir durch die Arbeit am Film Deine Sichtweise auf Dein persönliches Leben verändert, resp. was hast Du daraus gezogen? In der Vorbereitung für dieses Filmprojekt ist mir bewusst geworden, dass der «Monte Verità» mehr verlangt als meine singuläre Regiesicht. Deshalb habe ich überlegt, wie damals um 1900, als der «Berg» gegründet wurde, Kooperation funktioniert haben könnte. Im Versuch, durchlässig zu bleiben, allen Beteiligten zuzuhören und auf ihr instinktives aber auch auf ihr handwerkliches Wissen zu vertrauen, haben wir so gemeinsam eine Vision geschaffen, die dem Ort hoffentlich nahekommt und
Otto Gross hat zum Glück zahlreiche Dokumente hinterlassen und es wurde viel über ihn geschrieben. All das konnte ich zur ausgiebigen Recherche nutzen. Und toll war auch das Gespräch mit dem Otto Gross-Experten Emanuel Hurwitz. Er ist selber Psychiater und eine absolute Koryphäe auf diesem Gebiet, zudem hat er ein Buch über Gross geschrieben. Ihm Fragen stellen zu können, war enorm hilfreich, da er all die Ambivalenzen ausgelotet hat, die meine Figur ausmachen.
Das Wichtige bei dieser intensiven Recherche ist aber, dass man nicht in Versuchung gerät, eine Figur aufgrund der theoretischen Erkenntnisse 1:1 nachzuspielen, sondern dass man etwas Neues entstehen lässt.
Wichtig waren auch die Proben auf dem Monte Verità. Dass es überhaupt Proben gab und dann noch während Corona war ein großes Glück. So waren wir Hauptdarsteller*innen gemeinsam mit Regisseur Stefan Jäger längere Zeit an dem Ursprungsort, wo alles begonnen hat und suchten dort nach inneren und äußeren Wahrheiten.
Besonders wichtig für meine Figur war zudem der Wiener Dialekt, den ich mir für diese Figur aneignen musste. Unterstützt hat mich die großartige Dialektcoach Susi Stach, mit der ich über mehrere Monate zweimal wöchentlich alle Dialoge durchgegangen bin. Das war ein äußerst wichtiger Teil der Vorbereitung.
Wie lässt man die Widersprüche und Ambivalenzen zu, die einer solchen Biographie innewohnen?
Die größte Herausforderung bei einer solchen Arbeit ist es, eine Kombination aus eigenen Erlebnissen und eigener Vergangenheit zu schaffen und das mit dem Recherche-Material zu kombinieren.
Dabei soll es auch nicht zu privat werden, denn dann würde man der historischen Figur nicht gerecht.
Wichtig ist es, dass man anfängt, die Figur zu mögen und Empathie zu empfinden für den Menschen in seiner ganzen Widersprüchlichkeit, die ja jeder von uns in sich trägt. Vielleicht nicht so ausgeprägt wie bei Dr. Gross, aber doch so, dass man daran anknüpfen kann. Diese beiden Herangehensweisen miteinander zu kombinieren, hat es mir ermöglicht, die Ambivalenz in seiner Figur zuzulassen.
Was glaubt Du, hat Otto Gross damals auf dem Monte Verità gesucht?
Ich glaube, er hat ganz viel gesucht: Er ist bestimmt auch da hochgegangen, um Antworten zu finden auf die Beziehung zu seinem Vater, auf die Beziehung zu sich selbst. Er hat bestimmt versucht, seine Therapien weiter zu entwickeln. Vielleicht auch eine Suche nach Selbstoptimierung. Man kann sich natürlich darüber streiten, ob ihm das gelungen ist...
Es war bei ihm immer auch eine grosse Sehnsucht nach Freiheit und nach dem Ausbruch aus der Bourgeoisie, aus den Normen. Er hat auch etwas Neues gesucht, etwas Unbekanntes - eine Zeitlang hat er das vielleicht in seiner Drogenabhängigkeit gefunden. Letzten Endes war er ja auch auf dem Monte Verità, um von seiner Sucht wegzukommen.
Was fasziniert Dich aus heutiger Sicht an einer Figur wie Otto Gross?
Dass es ein sehr moderner Gedanke ist, Therapien auf diese Art und Weise zu führen. Ich spreche jetzt nicht davon, dass Gross mit seinen Patientinnen intim wurde, aber zu sagen, dass eine Therapie nicht zwingend liegend gemacht werden muss, sondern dass es auch möglich ist, im Freien zu therapieren oder sich in die Augen zu schauen, aufrecht zu sitzen und sich auf Augenhöhe zu begegnen... Das finde ich einen unfassbar modernen Gedanken und wird zum Glück ja heute in vielen Therapien so gehandhabt.
Wie hast Du den Monte Verità heute erlebt?
Dadurch, dass ich sehr lange Zeit zuvor in Berlin war, auch durch die Covid-Situation und dadurch, dass ich nicht rauskonnte während des Lockdowns in Deutschland, war der Monte Verità für mich eine Wiedervereinigung mit der Natur. Was ich früher immer für selbstverständlich genommen habe, als Kind – in der Schweiz aufgewachsen und viel im Freien – fand ich nun plötzlich wieder faszinierend neu. Auch durch die vielen Aussendrehs bei diesem Film... Ich hab mir einen Roller gemietet, war in den Drehpausen häufig im Tessin unterwegs und hatte dadurch das Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit. Aus einer Leichtigkeit heraus zu arbeiten – das ist das Schönste, was einem passieren kann und hat diese Dreharbeiten zu etwas sehr Besonderem gemacht. - 16 - MONTE VERITÀ – Interview: Fünf Fragen an Stefan Jäger, Regisseur Warum glaubst Du, ist der Stoff heute noch relevant? Was die Gründer auf dem Monte Verità gesucht haben, ist die Auseinandersetzung mit Themen, die auch heute noch brennend aktuell sind: - Wie können wir im Einklang mit der Natur leben? - Wie kann man sich in einer Gruppe für das Gemeinwohl einsetzen, dabei aber auch dem Individuum die freie Entfaltung ermöglichen? - Wie wird die Seele gesund? - Welchen Einfluss hat die Ernährung auf unser Wohlbefinden? - Wie geht man mit dem um sich greifenden Wandel um, der den menschlichen Geist erschüttert? - Was kann eine Gesellschaft aus den Utopien von wenigen lernen und braucht es solche Utopien, um einen grösseren Wandel einzuleiten? Heute mehr denn je? Wie siehst Du die historischen Figuren, die im Film dargestellt werden, aus heutiger Sicht? Die Gründerin Ida Hofmann war eine Frauenrechtlerin und kämpfte vehement für die Selbstentfaltung des Individuums. Sie rannte damals gegen zahlreiche Widerstände an, selbst innerhalb der Gruppe der Gründer*innen kam es aufgrund ihrer radikalen Ansichten und Forderungen zu Konflikten. Der Arzt Otto Gross war ein Verfechter der Sterbehilfe, aber auch ein umstrittener Psychoanalytiker, dessen Empathie zu seinen Patientinnen schon damals für Skandale sorgte. Aus heutiger Sicht ist er eine Figur, die in ihrer Ambivalenz extrem polarisieren würde. Lotte Hattemer, die Tochter des Berliner Bürgermeisters und ebenfalls Mitgründerin des Monte Verità, suchte in ihrer radikalen Zivilisationsverweigerung einen Weg zurück in die Natur, mit der sie eins sein wollte. Sie steht damit auch für viele Menschen, die sich in unserer Gegenwart nach etwas sehnen, das sie von den gesellschaftlichen Zwängen befreit. Isadora Duncan war eine der ersten modernen Tänzerinnen. Sie suchte als Künstlerin einen Weg, den noch niemand vor ihr beschritten hatte. Hermann Hesse fand auf dem Berg der Wahrheit seine innere Wahrheit, die sein Schaffen Zeit seines Lebens prägte und mit der er uns bis heute berührt. Die vegane Ernährungsform auf dem Monte Verità, die Offenheit gegenüber jeglicher Gesinnung, der Versuch im Einklang mit der Natur zu leben und die Einflüsse auf viele weitere Künstlerkolonien in ganz Europa machten das Sanatorium zu einem Leuchtturm, dessen Licht bis heute spürbar ist. - 17 - Hat sich bei Dir durch die Arbeit am Film Deine Sichtweise auf Dein persönliches Leben verändert, resp. was hast Du daraus gezogen? In der Vorbereitung für dieses Filmprojekt ist mir bewusst geworden, dass der «Monte Verità» mehr verlangt als meine singuläre Regiesicht. Deshalb habe ich überlegt, wie damals um 1900, als der «Berg» gegründet wurde, Kooperation funktioniert haben könnte. Im Versuch, durchlässig zu bleiben, allen Beteiligten zuzuhören und auf ihr instinktives aber auch auf ihr handwerkliches Wissen zu vertrauen, haben wir so gemeinsam eine Vision geschaffen, die dem Ort hoffentlich nahekommt und