Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 24. Februar 2022, Teil 6
Margarete Ohly-Wüst
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Am 15. August 1969 ändert sich das Leben des neunjährigen Buddy (Jude Hill). Gerade noch haben die Kinder in den Gassen des Arbeiterviertels in Belfast mit Holzschwert und Mülleimerdeckel gegen andere Kinder gekämpft und ihre Mütter haben sich vor den Häusern unterhalten, als plötzlich ein protestantischer Mob unter der Führung von Billy Clanton (Colin Morgan) in die Straße drängt und die dort lebenden Katholiken mit Gewalt und Terror dazu zwingt, das Viertel zu verlassen.
Während die Straße durch Barrikaden und Militär, Kontrollen und über der Straße schwebenden Hubschraubern verändert wird, versucht der Junge, sein normales Leben weiter zu führen. Buddy liebt Kinobesuche mit seiner Familie, Matchbox-Autos und er schwärmt für seine Mitschülerin Catherine (Olive Tennant). Er lebt zusammen mit seiner Mutter "Ma" (Caitriona Balfe) und seinem älteren Bruder Will (Lewis McAskie) in einem kleinen Häuschen, seine väterlichen Großeltern Granny (Judi Dench) und Pop (Ciarán Hinds) leben ganz in der Nähe. Sein Vater "Pa" (Jamie Dornan) arbeitet in England und ist immer nur 14 Tage im Monat zu Hause, denn Buddys Eltern müssen noch Schulden abbezahlen, trotzdem wird die Geldnot immer größer.
Da die Konflikte zwischen Katholiken und Protestanten immer massiver werden und Pa auch von Billy Clanton, dem Anführer der Protestanten, bedrängt wird, sich ihnen aus Loyalität anzuschließen, denkt vor allem Pa darüber nach, ganz nach England umzuziehen, da er von seinem Chef ein sehr verlockendes Angebot bekommen hat.
Doch weder Buddy, der sich immer noch mit großer Begeisterung Filme im nahe gelegenen Kino und im Fernsehen ansieht, noch seine Mutter und sein Bruder wollen das Viertel, in dem sie aufgewachsen sind und in dem jeder jeden kennt, verlassen. Als dann aber die Konflikte die Familie ganz direkt betreffen, ist Buddy gezwungen, viel zu schnell erwachsen zu werden, denn die Eltern müssen ganz kurzfristig die Entscheidung treffen, ob sie die Kinder entwurzeln und das Pulverfass Belfast verlassen sollen oder was es bedeutet in Belfast zu bleiben...
Regisseur und Drehbuchautor Kenneth Branagh ist 1960 in Belfast geboren und seine Familie hat 1969 Nord-Irland verlassen und ist nach England gezogen. Branagh beschreibt also im Film lose Episoden aus seiner eigenen Kindheit in Belfast, die er allerdings als "autofiktional" bezeichnet.
Betrachtet werden die Geschehnisse von 1969 in Belfast durch die Augen des neunjährigen, filmverrückten Buddy. Seine Eltern und Großeltern werden nur als Ma und Pa, sowie Granny und Pop bezeichnet. All das deutet an, dass es Branagh bei "Belfast" weniger um einem wirklich authentischen Blick auf seine eigene Kindheit geht, als vielmehr darum, wie er zurück in eine ferne, manchmal auch verklärte Vergangenheit blickt. Branagh hat dabei auch ein nettes kleines "Easter Egg" eingebaut, wenn Buddy auf dem Bürgersteig sitzt und ein Comic von "Thor" liest, schließlich hat Kenneth Branagh beim gleichnamigern Marvel-Film von 2011 Regie geführt.
"Belfast" wurde ab September 2020 größtenteils im Freien in Belfast gedreht. Als Kameramann fungierte Haris Zambarloukos, der bereits bei "Mord im Orient Express" (2017), "Artemis Fowl" (2020) sowie in der gerade angelaufenen Agatha Christie Adaptation "Tod auf dem Nil" (2022) mit Kenneth Branagh zusammengearbeitet hat. Um den unscharfen Blick darzustellen, wird der größte Teil von "Belfast" in Schwarzweiß und auch häufig leicht unscharf gezeigt. Farbe gibt es - außer zu Beginn des Films, der in der Gegenwart spielt - nur in wenigen Szenen, in denen sich Buddy aus dem Belfaster Alltag in Fantasiewelten flüchtet, zum Beispielt bei Kino-Besuchen der ganzen Familie in Filme wie "One Million Years BC" (1966) und "Chitty Chitty Bang Bang" (1968) oder bei einer Theater-Aufführung von "A Christmas Carol".
Branagh zeigt die verschiedenen familiären und politischen Konflikte unterhaltsam und abwechslungsreich aus der Sicht eines Neunjährigen. Dabei stechen Buddys Unterhaltungen mit seinem Großvater hervor, der ihm immer wieder Tipps gibt, z.B. wie er sich dem angebeteten Mädchen in seiner Klasse nähern kann oder auch wie man in Mathematik die Lehrerin austrickst und trotzdem gute Noten bekommt.
Der Regisseur kann sich dabei auf eine hervorragend aufspielende Schauspielgruppe stützen, die hauptsächlich aus nordirischen oder irischen Darstellern bestand. Das Ensemble wurde angeführt von dem zur Drehzeit 11jährigen Jude Hill als Buddy, der als geistreicher, charmanter und wissbegieriger Junge in beinahe jeder Szene zu sehen ist. Aber auch das Zusammenspiel des Jungen mit den bekannten älteren Darstellern ist sehenswert. Dabei ragen die Interaktionen mit Judi Dench als Granny und vor allem Ciarán Hinds als Pop heraus.
Judi Dench und Kenneth Branagh haben seit 1989 in "Heinrich V" schon häufiger in Filmen zusammen gearbeitet, zuletzt in "Mord im Orient-Express" (2017), "All is True" (2018) und "Artemis Fowl" (2019). Aber beide haben auch schon mehrfach gemeinsam im Theater gearbeitet. Ciarán Hinds ist ebenso wie Branagh in Belfast geboren - allerdings in einer katholischen Familie, während die Familie Branagh Protestanten waren.
Neben Judi Dench und Ciarán Hinds gehört auch die irische Schauspielerin Caitriona Balfe zu den Highlights des Films. Herausragend und mit unglaublicher emotionaler Breite sind ihre Streitszenen mit Jamie Dornan als ihrem Ehemann, der ihr dabei schauspielerisch auch nicht nachsteht. Ma sträubt sich lange, Belfast und damit die einzige Heimat, die sie kennt, zu verlassen und im unbekannten England ein neues Leben anzufangen. Außer den Schauspielern, die Buddys Familie spielen, hat vor allem Colin Morgan noch eine größere Rolle als Billy Clanton, dem Anführer der protestantischen Aufrührer.
Neben den Schauspielern ist auch die Musik herausragend, denn Branagh verwendet überwiegend Musik des 1945 in Belfast geborenen nord-irischen Singer-Songwriters Van Morrison, der acht alte und einen neuen Song zum Score beigesteuert hat.
Die teilweise autobiographische Coming-of-Age Story des neunjährigen Buddy als Alter Ego zu Kenneth Branagh ist ein Favorit bei der Award Saison 2022. "Belfast" erhielt neben vielen weiteren Ehrungen 5 Nominierungen bei den British Academy Film Awards, 11 Nominierungen bei den Critics’ Choice Movie Awards oder 7 Nominierungen bei den Golden Globe Awards (Kenneth Branagh wurde dabei für das beste Drehbuch ausgezeichnet). Neben als bester Film, beste Regie oder bestes Drehbuch erhielten aber auch die 5 Hauptdarsteller häufig für ihre schauspielerischen Leistungen Nominierungen.
Bei den Academy Awards 2022 erhielt der Film sechs Nominierungen, u.a. als bester Film. Daneben wurde Kenneth Branagh sowohl als bester Regisseur als auch für das beste Originaldrehbuch nominiert ebenso wie Ciarán Hinds und Judi Dench als beste Nebendarsteller.
Das Drama wurde von der Deutschen Film- und Medienbewertung (FBW) mit dem Prädikat "besonders wertvoll" ausgezeichnet, denn es sei ein mitreißender, wahrhaftiger Film entstanden, bei dem Branagh seine Virtuosität nie ausstellt, sondern sie immer so einsetzt, dass diese Geschichte so intensiv und lebendig wie möglich erzählt wird.
Insgesamt ist "Belfast" eine wunderschöne Hommage von Kenneth Branagh an seine Kindheitserlebnisse zu Beginn der Gewaltausbrüche in Nord-Irland 1969. Dadurch dass der Film in schwarz-weiß gedreht wurde, wirkt er wie die Erinnerungen an eine ferne Vergangenheit, so wie man sich die Bilder im Familienalbum ansieht und mit Wehmut auf eine Zeit der Kindheit zurückblickt. Das macht "Belfast" unterhaltsam auch für Zuschauer, die sich nicht mit den politischen Hintergründen auseinander setzen wollen, denn das Drama will weder zu innovativ noch zu anspruchsvoll sein, da er den politischen Hintergrund nur aus der Sicht des Kindes zeigt.
Kenneth Branagh widmet im Abspann den Film
"For the ones who stayed. For the ones who left. And for all the ones who were lost."
Foto 1: Jamie Dornan als Pa und Jude Hill als Buddy © Universal Pictures International Germany / Focus Features
Foto 2: v.l.n.r.: Caitriona Balfe als Ma, Judi Dench als Granny, Jude Hill als Buddy und Ciarán Hinds als Pop © Universal Pictures International Germany / Focus Features
Info:
Belfast (Großbritannien 2022)
Originaltitel: Belfast
Genre: Drama
Filmlänge: 99 Min.
Drehbuch und Regie: Kenneth Branagh
Darsteller: Jude Hill, Caitriona Balfe, Jamie Dornan, Ciarán Hinds, Judi Dench, Lewis McAskie, Colin Morgan, Lara McDonnell, John Sessions u.a.
Verleih: Universal Pictures International Germany
FSK: ab 12 Jahren
Kinostart: 24.02.2022