01 AEIOU c Reinhold VorschneiderDie 72. Berlinale vom 10. bis 20. Februar (6)

Hanswerner Kruse

Berlin (Weltexpresso) - Die Filmfestspiele sind vorbei, am Potsdamer Platz herrscht wieder Alltag. Die roten Teppiche vor dem Palast und die stilisierten Bären auf den Plakaten in der Stadt sind verschwunden. Und doch tauchen immer wieder Bilder und Szenen in meinen Erinnerungen auf:

Nana, die ihrem Kind erklärt, Frauen haben einen Knoten im Haar, damit sie Geheimnisse behalten können. Als sie ihren Mann verlässt, trägt sie die Haare offen... („Nana“). „Here comes the Sun“, singen die Beatles, während der junge Adrian zwei Vögel unter seiner Jacke hervorholt um sie der sehr viel älteren Anna zu schenken („A E I O U“). Hannah Schygulla wiegt Peter von Kant - alias Rainer Werner Fassbinder - in den Armen und singt ihm ein Schlaflied („Peter von Kant“). Es ist Weihnachten, die Frau hat an jeder Brust einen Säugling, aber niemand in der Familie kann sie auseinanderhalten, nicht einmal sie selbst („La Ligne“).

Verzweifelt strampelt eine Maus in einem Wasserbecken, langsam wird aus ihrem Kopf das Antlitz Isabelle Hupperts. „Apropos Joan“ ist der neue Film der Huppert, er lief nicht im Wettbewerb, sondern wurde als Special Gala gezeigt. Als Joan fährt sie von Paris aufs Land, um das große Haus der Familie zu verkaufen. Auf der langen Fahrt erinnert sie sich - zunächst dargestellt von einer jungen Schauspielerin - an ihre Zeit als Au-Pair-Mädchen in Irland,. Dort lernte sie den charmanten Dieb Doug kennen, der sie schwängerte und zum Klauen ausbildete. In zahlreichen weiteren Rückblenden und Parallelgeschichten begegnen wir dann häufig ihrem Sohn. Sie wird Verlegerin in Paris, entdeckt und fördert in der Punk-Zeit den exzentrischen, etwas ver-rückten Schreiber Tim (Lars Eidinger). Joan erreicht das Haus, bald treffen sowohl der Sohn als auch Schriftsteller Tim auf. Sie verkauft das Haus, räumt ihr Leben auf und schafft überraschende Wahrheiten.

Ein spannend erzählter und trotz seiner Komplexität sehr humorvoller Film, den man sich ebenso merken sollte wie Nicolette Krebitz’ Wettbewerbsbeitrag „A E I O U - das schnelle Alphabet der Liebe“. Schon mit „Wild“ hatte die deutsche Schauspielerin und Regisseurin einen Film präsentiert, in dem eine junge Büroangestellte sich in einen Wolf verliebt, ihn einfängt und in ihrer Wohnung hält, schließlich aber mit ihm in die Wildnis geht.

Ähnlich geht es nun eigentlich auch der alternden Anna (Sophie Rois), in die sich der junge, kriminell gewordene Adrian (Milan Herms) verliebt. „Kannst Du Dir kein Mädchen in Deinem Alter suchen“, herrscht sie ihn an, doch das will er nicht. Stattdessen hauen beide aus Berlin ab, beklauen an der Côte d’Azur reiche Russinnen und verwildern zunehmend. Dort spielten in den 1970er- und 80er Jahren zahlreiche Liebesfilme, das ungleiche Paar bewegt sich quasi in den Kulissen dieser Streifen, bis die Polizei Anna als Diebin festnimmt. Auch dieses spannende und durchgehend humorvolle Werk überrascht mit einem surrealen Ende.

Auf den Wettbewerbsbeitrag „Rimini“ von Ulrich Seidel wollen wir hier noch hinweisen. Der Regisseur ist für seine trist wirkenden und scheinbar illusionslosen Streifen bekannt („Paradies:Liebe“). Auch der im winterlichen, vergammelten Rimini/Italien angesiedelte Film zieht einen ziemlich herunter. Der Himmel ist grau, das graue Meer neblig, schemenhaft hocken überall graue Flüchtlinge in den Straßen. Der einst berühmte, nun alt gewordene Schlagersänger Richie Bravo (Michael Thomas), singt nur noch vor älteren, mit Bussen angereisten Damen. Einigen ist er nach der Vorstellung gegen Bezahlung sexuell zu Diensten.

Eines Tages taucht seine, von ihm lange vernachlässigte Tochter mit ihrem arabischen Freund auf, und fordert eine „Entschädigung“. Als Richie immer heftiger von ihr bedrängt wird, erpresst er mit einem Handy-Video den Ehemann einer von ihm sexuell beglückten Dame. Er bekommt genug Geld für seine Tochter, doch die ist mittlerweile schwanger geworden und zieht nun, ohne große Nachfrage, mit ihrem Mann und mindestens zwanzig weiteren Flüchtlingen in seine heruntergekommene Villa ein. Den Film erlebt man ähnlich, wie wahrscheinlich die Flüchtlinge nun das Leben in ihrem westlichen Paradies wahrnehmen: trist!

Foto:
aus „A E I O U" (c) Reinhold Vorschneider

Info:
Nicolette Kreibitz, „A E I O U - das schnelle Alphabet der Liebe“ Filmstart 16. Juni 2022
Laurent Larivière „About Joan“, Filmstart im Spätsommer 2022
Ausführliche Besprechungen folgen zu den Filmstarts.