Die Wettbewerbsfilme der 64. Berlinale vom 6. bis 16. Februar 2014, Film 2

 

Claudia Schulmerich



Berlin (Weltexpresso) – Ein erstaunlicher deutscher Film ist JACK, der das Schicksal zweier Brüder im Großstadtdschungel erzählt, wo eine Mutter mit sozialer Inkompetenz, aber großer Liebesbedürftigkeit, es so weit treibt, daß ihr zehnjähriger Sohn Jack die Verantwortung übernimmt und, den kleinen Bruder Manuel an der Hand, die Wohnung verläßt und mit diesem lieber ins Heim geht.

 



Von dort war Jack erst vor ein paar Tagen mit irrsinnigen Freudengefühlen in die Ferien nach Hause abgehauen, aber diese Tage und vor allem die Nächte im Freien oder im Inneren von Autos haben dem Kind klargemacht, daß von der Mutter keine Fürsorge zu erwarten ist. Vielleicht könnte man von diesem Film nicht so angetan sprechen, wenn man den ganzen Film nicht so dezidiert auf dem Gesicht seines Hauptdarstellers, Ivo Pietzcker, widergespiegelt sähe. Dieser Junge, der in der Pressekonferenz eloquent und souverän zur Rolle und seinem Leben Auskunft gab, trägt den ganzen Film, was im Drehbuch angelegt ist, denn es gibt kaum eine Szene ohne ihn. Der Film heißt ja konsequenterweise auch Jack.



Aber schildern wir den Film von Anfang an. Ein wunderschöner Beginn. Zwei Jungen liegen schlafend in der Morgensonne und diese Einstellung setzt sich so lange fort, daß man schon irritiert reagiert. Aber dann geht alles blitzschnell. Jack reißt die Küchenschränke auf, knallt in irrer Geschwindigkeit die Teller und Tassen auf den Tisch, macht Manuel Frühstück und zerrt ihn mit sich. Die Mutter (Luise Heyer)? Entweder arbeitet sie schon oder sie hat sich mal wieder verliebt und erhofft vom nächsten Mann das große Glück, was dann so ausgehen wird, daß ein dritter Bruder unterwegs ist. Auf jeden Fall lernen wir Freunde und Verhältnisse der Mutter kennen, aber keine Väter.



Der von Edward Berger inszenierte und das von ihm und Nele Mueller-Stöfen niedergeschriebene Drehbuch kennt keine Schwarz-Weiß-Malerei und hält sich zurück mit Schuldzuweisungen. So erlebt der Zuschauer völlig ohne pädagogischen Zeigefinger eine Mutter, die empathisch ihre Kinder knuddelt, sie dauernd fragt, ob sie hungrig seien, selbst wenn diese beim Beischlaf stören, mit ihnen Ausflüge macht und zugewandt erscheint. Und die gleichzeitig ihre Kinder alleine läßt, das heißt sich selbst überläßt, dabei aber immer Jack als dem Großen die Verantwortung für den kleinen Bruder zuschustert. Eines Tages verbrüht sich dieser Manuel mit kochend heißem Wasser. Jack wird die Schuld an dem Vorfall gegeben. Für die Behörden ein Grund, ihn in ein Wohnheim zu stecken. Dort leidet der Junge unter Heimweh. Er gerät bald in Konflikte und reißt aus, um nach Hause zurückzukehren. Doch wieder einmal ist die Mutter nicht da. Auf der Suche nach ihr durchstreifen Jack und Manuel die Stadt. Sie übernachten in Parks und in einer Tiefgarage, flüchten vor der Polizei, treffen auf Erwachsene, die ihnen helfen, und andere, die gleichgültig bleiben.

Der Regisseur hat die Handlung filmisch mehrfach unterfüttert. Die Kamera schwebt immer über Jack, hat ihn im Zentrum und wir erleben aus seinen Augen diese Welt. Da weite Teile des Films das Durchstreifen der Gegend auf der Suche nach der Mutter ausmacht, wird verhältnismäßig wenig gesprochen. Ja, man vermeint auf einmal ein Verstummen zu hören. Auf der anderen Seite sind die Szenen in den Unterführungen, den Brücken, neben den Autobahnen und Schnellstraßen, auch in den U- und S-Bahnen kreischend laut. Die gesamte Dingwelt ist lärmend, das konnte man schon beim Frühstückmachen in der Küche beobachten. Die anonyme Großstadtwelt, die, wie der Regisseur ausführte, mit Absicht nicht in sozialen Brennpunkten, in verwahrlosten Hochhäusern oder Plattenbau spielt, ist ein Ausdruck dessen, was Alexander Mitscherlich einst als die Unwirtlichkeit der Städte beschrieb. Man bekommt Gänsehaut.


Es ist die große Stärke des Films, daß er weder ein Sozialdrama darstellt, noch Wohnorte oder Personen stigmatisiert. Er zeigt den eigentlich aussichtslosen Konflikt, der in der, in der Psychologie so genannten double bind Situation, herrscht. Die Kinder lieben ihre Mutter, sie ist ihnen das Höchste und Liebste und werden durch ihre Unzuverlässigkeit und mangelnde Fürsorge immer noch mehr an sie gebunden, denn kaum ist sie wieder einmal verschwunden, machen sich die Kinder Sorgen um die Mutter und suchen sie. Wie der zehnjährige Jack dies ohne Psychoanalytiker und überhaupt ohne Erwachsenen durch die letzten mutterlosen Tage erlebt und dann vor allem verstehen lernt, daß sie sich wirklich um ihn und Manuel keine Sorgen gemacht hatte und in Verantwortung für den Bruder seine Konsequenzen zieht, gehört zu den stärksten Filmschlüssen, die man sich vorstellen kann. Dadurch ist ja nichts grundsätzlich geheilt, aber die Analyse des Jungen ist zutreffend.



INFO:

Deutschland 2014, 103 Min

Deutsch

REGIE

Edward Berger

DARSTELLER

Ivo Pietzcker
Georg Arms
Luise Heyer
Vincent Redetzki
Jakob Matschenz
Nele Mueller-Stöfen