Bildschirmfoto 2022 07 27 um 23.13.24Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 28. Juli 2022, Teil 1

Redaktion

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Gewandt, charmant und manipulativ: DER PERFEKTE CHEF ist das Zünglein an der Waage, hält die Fäden in der Hand. Seine Firma stellt Industriewaagen her, aber das alte Zweischalenmodell, das Besucher am Firmeneingang begrüßt, ist aus dem Gleichgewicht geraten.

Blanco ist eine charismatische Persönlichkeit, ein auf seinen Vorteil bedachter Strippenzieher, der sich schamlos in das Privatleben seiner Mitarbeiter einmischt, um die Rentabilität seiner Firma zu verbessern, dabei moralische Grenzen überschreitet und so weit geht, dass es kein Zurück mehr gibt. Eine Figur, der wir uns nahe fühlen, trotz ihres skrupellosen Charakters. Vielleicht ist die Geschichte ein Porträt von uns – oder über das, was zu werden wir uns am meisten fürchten.

Blanco steht im Zentrum dieser tragikomischen Fabel über ein verbrauchtes Arbeitsökosystem, in der es weder Helden noch Bösewichte gibt, weit entfernt von jeglichem Manichäismus. Eine bissige Komödie, dunkelgrau, fast schwarz. Ein ätzender Blick auf die persönlichen und beruflichen Beziehungen in einem Familienunternehmen, das einige hundert Mitarbeiter beschäftigt.

DER PERFEKTE CHEF ist, wenn man will, der Gegenentwurf zu „Montags in der Sonne“, ein Gegenentwurf mit vielen Schatten. Beschäftigte sich „Montags in der Sonne“ mit dem Thema der Arbeitslosigkeit, wirft dieser Film einen Blick auf die prekäre Situation des Arbeitsmarkts, benutzt dabei aber eine ähnliche Ästhetik und ähnliche Erzählstrukturen. Eine chorhafte Geschichte mit ineinander verschlungenen Handlungen, die auf perverse Art und Weise miteinander interagieren und allesamt von der verführerischen Persönlichkeit Blancos getränkt sind.

DER PERFEKTE CHEF ist ein Porträt der Entpersonalisierung und des Verfalls von Arbeitsbeziehungen, ein Porträt einer Zeit, in der einstige Konzepte wie Solidarität, Moral und Gemeinwohl von der Landkarte des Arbeitsmarkts gestrichen worden zu sein scheinen und von den Gesetzen des Kapitalismus und der Unsicherheit ersetzt wurden.

Das Bild der Waage ist eine universelle Metapher für Gerechtigkeit und setzt den Rahmen: Blanco versucht um jeden Preis, das finanzielle Gleichgewicht seines Unternehmens wiederherzustellen, auch wenn das bedeutet, dass er zu unlauteren Mitteln greifen muss.

Ich glaube, komplexes und künstlerisch ambitioniertes Kino ist möglich. Eines, das Zeugnis ablegt davon, wer wir sind, in welcher Zeit wir leben. Und das gleichzeitig unterhält, fesselt und bewegt. Indem es Humor einsetzt, manchmal sogar zur leichten Komödie wird, ohne dabei aber seinen Auftrag, seine Wahrheit oder Poesie verliert. Ein Kino, das die Wurzeln dessen untersucht, wer oder was wir sind, und auf der Suche ist nach der Hypothese dessen, was wir eines Tages sein werden. Ein Kino mit einem offenen Fenster zur Straße, das sich damit auseinandersetzt, was draußen auf den Gehwegen unseres Landes geschieht, in unseren vier Wänden, in unseren Schlafzimmern, an unserem Arbeitsplatz.

Visuell strebt DER PERFEKTE CHEF nach einem transparenten Gefühl der Realität, ohne auf strahlende, anspruchsvolle Bilder zu verzichten. Kameramann Pau Esteve rückt den kalten, industriellen Wandteppich, auf dem der Charakter der Figuren ausgebreitet und ihre Konflikte herausgestellt werden, auf elegante Art und Weise ins rechte Licht.

Die Bildsprache ist zunächst symmetrisch, horizontal und sehr harmonisch, ein Verweis auf Blancos Leistungen in seinem privaten Leben wie in seinem Unternehmen inmitten seiner Mitarbeiter. Doch im Lauf der Geschichte wird sie mehr und mehr dynamisch und wackelig. Das Schwindelgefühl der Handkamera ersetzt die Horizontalität der ersten Bilder und unterstreicht den Kurswechsel unseres Protagonisten.

Die Musik geht dabei Hand in Hand: Ist sie zunächst melodisch und freundlich, scheinbar leicht, wandelt sie sich im selben Maße, wie Blanco seine Maske fallen lässt. Der Soundtrack von Zeltia Montes ist eine wunderbare musikalische Neuschreibung meines Drehbuchs, wie eine zweite Haut des Films, und fängt die Komplexität seines Tons, seiner vielschichtigen Balance ein.

Schauplatz der Handlung ist das Industriegelände in der Peripherie einer Kleinstadt, mit seinen horizontalen grauen Flächen und gesichtslosen Gebäuden. Im Zentrallager einer Fabrik mit erhöhten Laufbühnen. Und in den Werkstätten schwarzer Gummi und Stahl. Inmitten des Dröhnens schwerer Maschinen, an denen Männer und Frauen mit Ohrenschützern schuften. In Lagerhallen und an Warenladerampen, auf Betonrampen, Paletten, Sattelschlepper. César Macarrón ist für diese gigantische Aufgabe verantwortlich, nämlich neues Leben in eine riesige geschlossene Fabrik am Stadtrand von Madrid zu bringen.

Unterdessen hat ein Mann, der nichts mehr zu verlieren hat, vor den Bauten, die einst sein Arbeitsplatz waren, seine Zelte aufgeschlagen und bringt damit die Pläne des PERFEKTEN CHEFS in Gefahr. Die grellen Banner und sein Zelt sind wie Farbtupfer in der grauen Monotonie des Fabrikareals und bringen sie aus der Balance.

Der beste Humor, der dem Lauf der Zeit widersteht und Grenzen überschreitet, entsteht aus Drama, weil er keine Zwischenlösung ist: Er erzählt uns von der menschlichen Natur. Er erzählt von dem verzweifelten Arbeiter, der jedes Mal, wenn der Boss in die Fabrik kommt oder sie verlässt, schlecht gereimte Slogans durch ein altes Megaphon brüllt. Von dessen Zerbrechlichkeit, seiner aufgezwungenen Einsamkeit, seiner tragischen Klarsicht. Manch anderes Mal entsteht der Humor durch Zärtlichkeit: von Josés Beziehung zu dem Sicherheitswachmann, der den Zugang zum Fabrikgelände überwacht und mit ihm heimlich Kaffee trinkt, sich mit ihm unterhält – immer in Angst davor, bei seinem unberechenbaren Chef in Ungnade zu fallen.

Auch die Amoralität des Chefs birgt Humor in sich, seine Intrigen und Exzesse – schließlich ist man immer das erste Opfer seiner Handlungen.

Blanco wird mit seinen Taten nicht ungeschoren davonkommen. Mit jeder Entscheidung, die er trifft, wird der Film düsterer. Und so wird der Schlussakt der Geschichte erst zum Thriller, dann zur Tragödie – ohne jemals das Lächeln zu verlieren.

Von allen Herausforderungen, denen wir uns stellen mussten, war die größte und riskanteste, den richtigen Ton zu finden. Humor und Schmerz: Es galt, das richtige Maß auf den Waagschalen zu finden.

Eifersucht, Missbrauch, Verrat, Macht, Knechtschaft, Rivalität, Rache, Ehrgeiz, Sex und sogar Tod – all die großen Themen der klassischen Tragödie – passen in das verworrene Geflecht von Interessen, Kleinlichkeiten und Ambitionen eines kleinen Fabrikanten von Industriewaagen, das in jeder beliebigen Provinzstadt angesiedelt sein könnte.

Es ist unsere Geschichte.

Foto:
©Verleih

Info:
DER PERFEKTE CHEF (El buen patrón)
von Fernando León de Aranoa, E 2021, 120 Min.
mit Javier Bardem, Manolo Solo, Almudena Amor, Óscar de la Fuente, Sonia Almarcha, Fernando Albizu
Komödie / Start: 28.07.2022

Abdruck aus dem Presseheft