Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 1. September 2022, Teil 9
Redaktion
Berlin (Weltexpresso) - Erika Steinhoff, geboren 1934, geht am 4. Dezember 1957 zufällig zu einer Filmvorführung von „Menschen am Sonntag“ an der Freien Universität in West-Berlin. Ulrich Gregor, geboren 1932, ist Mitglied des Studentenfilmclubs, der diesen Film über das Lebensgefühl im Berlin der 20iger Jahre ausgewählt hat und vorführt. Er leitet die anschließende Filmdiskussion. Erika ist 23 Jahre alt und Ulrich 25 Jahre, sie streiten sich über den Film – und werden ein Paar. Fortan widmen sie sich gemeinsam einer Mission: Filme zeigen.
Mit Charme, Geschick und Überzeugungsarbeit finden sie Wege, in Ost- und West-Berlin und sonstwo die Standorte der Filmkopien aufzuspüren und sie auszuleihen. Vor dem Mauerfall transportieren sie oft die schweren 35mm Büchsen gemeinsam auf der Vespa quer durch die Stadt. Die Filmvorführungen an der Uni reichen als Plattform nach kurzer Zeit nicht mehr, sie gründen die „Freunde der Deutschen Kinemathek“ und ziehen in die Akademie der Künste um, auch dort reichen die Vorführkapazitäten schon bald nicht mehr. Studentenproteste treffen auf Sowjetische Revolutionsfilme, das deutsche Verleugnen des Nationalsozialismus auf Alain Resnais’ Film „Nacht und Nebel“. Das Programm ist gesellschaftskritisch und gleichzeitig an Filmkunst orientiert.
1970 eröffnen die Gregors (1960 heirateten Erika und Ulrich) zusammen mit einigen MitstreiterInnen das KINO ARSENAL. Fortan zeigen sie vier Mal täglich Filme, Filme, Filme: alte deutsche Filme der Stummfilmzeit, Oberhausener Manifest, neue deutsche Filme der Jungen Autoren, Arbeiterfilme der 68er Bewegung, lateinamerikanische Filme, russische Filme, polnische französische, ungarische, bulgarische, schwedische, italienische Filme, Filme über das schwarze Amerika, Filme aus Afrika, Filme gegen die Apartheid, Filme über den deutschen Nationalsozialismus, Dokumentarfilme, Spielfilme, Avantgarde-Filme – Filme aus der ganzen Welt. Die meisten dieser Filme konnte man im Deutschland vor der Digitalisierung einzig und allein im Arsenal ansehen. Das Kino war nahezu immer voll.
Die BERLINALE, das West-Deutsche Filmfestival, 1950 gegründet, war Ende der 60er Jahre inhaltlich und künstlerisch am Endpunkt. Ein deutscher Film (“OK” von Michael Verhoeven), der sich kritisch über den Vietnamkrieg äußerte, führte zum Abbruch des Festivals. Man wollte die deutsch-amerikanische Freundschaft nicht gefährden. Ein politischer Skandal. Danach musste sich die BERLINALE politisch und künstlerisch der neuen Zeit der gesellschaftlichen Umbrüche durch die 68er Bewegungen öffnen, sonst hatte sie keine Chance mehr weiter zu bestehen, weder bei den Zuschauer*innen noch bei den Künstler*innen. Die GREGORS wurden vom Berliner Senat mit der Leitung und der Organisation der neu geschaffenen Sektion der Berlinale: DAS INTERNATIONALE FORUM DES JUNGEN FILMS beauftragt.
Aus heutiger Sicht weiß man, dass das FORUM die Berlinale nicht nur gerettet hat, sondern zu dem gemacht hat, wofür die BERLINALE weltweit steht: Ein weltoffenes, politisches und künstlerisches Filmfestival. Das ist einzigartig. Ohne die GREGORS, die das FORUM von 1970 – 2000 – also 30 Jahre lang geprägt haben, wäre dies nicht so. Viele deutsche und internationale Filmemacher wurden von den Gregors eingeladen, ihre ersten Filme im FORUM zu präsentieren – unter ihnen: Peter Greenaway, Helke Sander, Jim Jarmusch, Jutta Brückner, Edgar Reitz, Claudia von Alemann, Michael Moore, Margarethe von Trotta, Wong Kar-Wai, Wim Wenders, Doris Dörrie, Rosa von Praunheim, Chantal Akerman, Theo Angelopoulos, Jeanine Meerapfel, Aki Kaurismäki u.v.a.m.
Umsetzung
Relativ chronologisch erzählt der Dokumentarfilm über wichtige Begegnungen, persönliche und institutionelle Entwicklungen sowie zentrale Filme im Leben der Gregors. Ausschnitte aus den gemeinsam wiedergesehenen Werken führen zu Diskussionen und werden mit persönlichen Erinnerungen verknüpft. Archivaufnahmen über Berlin und die Berlinale und Schlaglichtberichte zu politischen Vorkommnissen kontextualisieren die Filmbeispiele und ihre Kommentierungen. Außerdem kommen Weggefährt*innen der Gregors oder Filmschaffende zu Wort, die durch ihre Filmarbeit geprägt wurden. In nachgestellten Szenen ist zu sehen, wie die jungen Gregors mit der Vespa 35-mm-Kopien durch Berlin transportieren. Die verschiedenen Materialien, auf die der Dokumentarfilm zurückgreift, umfassen auch Elske Lasker-Schülers titelgebendes Gedicht „Komm mit mir in das Cinema“, das Ulrich Gregor zu Beginn vorliest.
Anknüpfungspunkte für die pädagogische Arbeit
Der Dokumentarfilm ist gut im Geschichtsunterricht einsetzbar, da er über Initiativen und Institutionen zur Filmkunst und -bildung in der Bundesrepublik Deutschland hinaus allgemeinere gesellschaftspolitische Entwicklungen thematisiert, wie z. B. die Studierendenbewegung um das Jahr 1968 oder den Kalten Krieg und die (auch kulturelle) Teilung Deutschlands. Ausgehend von den gezeigten und kommentieren Filmausschnitten lässt sich auch diskutieren, inwiefern Filme ein gesellschaftliches Klima widerspiegeln oder zu politischen Debatten beitragen können. Hier bietet sich ein Vergleich der Nachkriegszeit mit der heutigen Medienwirklichkeit an. Neben einzelnen der in Ausschnitten präsentierten Filmen könnten die literarischen Texte vertiefend analysiert werden, aus denen der Dokumentarfilm zitiert: wie das titelgebende Gedicht von Elske Lasker-Schüler oder Christa Wolfs Roman „Der geteilte Himmel“.
Foto:
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Info:
KOMM MIT MIR IN DAS CINEMA - DIE GREGORS
von Alice Agneskirchner, D 2022, 155 Min.
mit Senta Berger als Kommentatorin
Mitwirkende: Erika und Ulrich Gregor, Wim Wenders, Jim Jarmusch, Doris Dörrie, Alexander Kluge, Volker Schlöndorff, Edgar Reitz Helke Sander, Gerd Conradt, István Szabó, Michael Verhoeven
Länge 161 Min
Dokumentarfilm / Start: 01.09.2022