DSC04819 bereinigt 2Bei Dokus und Magazinsendungen macht sich das Fernsehen durchaus verdient – sonst aber herrscht viel Wüstenei

Heinz Markert

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Verschiedentlich schon hat sich Michi Herl mit Geist, Witz und Ätzendheit die Schlichtheit der Medien vorgenommen, kürzlich auch wieder mal das Hessische Fernsehen.

Der HR war vor nicht langer Zeit im Gerede, als er plante, den HR2-Hörfunk abbauen zu wollen, was zunächst nach vielen Stimmen des Protests verhindert werden konnte.


Das Fernsehen der frühen Bundesrepublik wurde zunehmend kritischer


Vor etlichen Jahren machte eine Verwandte, die in Bayern lebt, große Augen und Ohren, als im HR eine Sozial-Dokumentation, den Tagelöhner-Markt in Frankfurt/Main angehend, gesendet wurde. Dieser Markt war amtlich genehmigt. In Bayern waren gesellschaftskritische Sendungen damals nicht die Regel. Heute ist das Bayerische Fernsehen dem Hessischen in Qualität und kritischer Herangehensweise überlegen.

Der angesprochene Tagelöhner-Markt war in Frankfurt-Ostend angesiedelt, in der Schwedlerstraße, einer Seitenstraße zur Hanauer Landstraße. Hier harrten die Ärmsten der Armen auf dem Frankfurter Arbeitsmarkt auf ein wenig Arbeit, wobei diese und andere Herabgewürdigte gegenwärtig seitens der Gewerkschaft Verdi noch immer als Freiwild gelten. Diese aber kommen den Ausfahrern, auch Rider genannt, gleich, den in diversen Lieferdiensten Beschäftigten. Sie sind als die aktuell modernen Sklaven - die teils ihr eigenes Gefährt stellen müssen, also Fahrrad oder Auto - zur offiziell verfestigten Sozialgruppe avanciert. Die Pandemie hatte einen Boom allgemein der sog. Plattformökonomie ausgelöst. bzw. verstärkt.

Nun war kürzlich in der Michi-Herl-Kolumne der FR auch wieder mal der HR an der Reihe, der eben längst schon anspruchsvollere Tage gesehen hatte. K. P. Mertens hatte in einem Leserbrief an die FR den Ball aufgenommen und nochmal auf die Kulturwüste im hessischen Dritten Fernsehprogramm hingewiesen. Dabei hob er auch auf den „Tobis Städtetrip“ im HR ab, dem der Ernst des Lebens völlig abzugehen scheint; er sprach auch die dem Frankfurter Flughafen gewidmeten Reportage-Serie, u.a. auf dem Vorfeld an, die geradezu auch noch für andauernd wiederholenswert befunden wird. Wohlgemerkt, das sind karge ‚Features‘, die sich auf den Moloch der Naturzerstörung beziehen; dem der Stadtwald zum Opfer gebracht wird, wie Peter Rodenfels, stellvertretender Leiter der Abteilung Stadtforst im Frankfurter Grünflächenamt, als gleichsam nun scheidender ‚Oberförster‘, kürzlich andeutete. Ein Frankfurter Philosoph hätte die Ergüsse des HR als läppisch abgetan.


Unterhaltungsware sei die Losung

Die von vornherein als unterhaltend gestalteten Sendungen korrespondieren mit einem Anti-Intellektualismus; jenem schon in der alten Bundesrepublik angesagten Lieblingsthema des Theodor W. Adorno, das ihn ganz aufsässig und fuchsig machen konnte. Klar auch, dass der Niveauverfall des Fernsehens nicht bloß in Hessen einer eifersüchtig und misstrauisch auf dem ganzen öffentlich-rechtlichen Tisch herumblickenden Schwarzen Politik geschuldet ist. Der frühere CDU-Ministerpräsident Roland Koch wusste, wie jegliche Kritik in seinem Landeskreis niedergemacht und rücksichtslos verfolgt werden konnte.


Die Sechziger setzten Marksteine für Gesellschaftskritik

Wir Jugendlichen begriffen in einer glorreichen Ära, dass eine Zeitenwende unsere Möglichkeiten steigerte, gesellschaftskritisch einzugreifen und Widerspruch zu leisten. Es war ein Trend, dem die Eltern und die ältere Bevölkerung nichts entgegenzusetzen hatte. Dieses kurze Zeitfenster war dadurch geprägt, dass Lehrerinnen und Lehrer, die dem Nationalsozialismus entkommen waren, uns ganz ausdrücklich ermutigten, Kritik zu üben und einem neuen Lebensstil und Denkprozess die Bahn zu brechen. Es wurden zu diesem Zweck im Unterricht Sketches geschaffen. Der Deutschlehrer wechselte dann bald zum Hörfunk.


Noch gar nicht so lange her

Das waren noch Zeiten als der HR um die Jahreswende auch mal ‚Samson und Delilah‘, von Cecil B. de Mille ausstrahlte. Da waren im Sender noch Kenner am Werk. Sind derartige Filme etwa gar zu teuer in der Ausleihe geworden? – In den späteren 60er-Jahren hat das Hessische Fernsehen Bühnen-Auftritte berühmter Pop- und Rock-Größen mitgeschnitten und seinen Jüngsten präsentiert. Diese Mitschnitte dämmern schon seit Zeiten im hintersten Archiv vor sich hin. Da war auch mal ein Jimi Hendrix dabei, der ‚gitarrenmäßig‘ bei Musikern noch immer als der gilt, der die Tür zu olympischen Sphären der Gitarrenbehandlung und der Entwicklung von zuvor noch nie gehörten Riffs und Phrasierungen aufgestoßen hat. In glorreicher Erinnerung ist auch die Studioaufnahme des HR von ‚Brian Auger and The Trinity‘, mit der begnadeten Julie Driscoll als Sängerin ('Road to Cairo'). Ihr Auftritt und stimmliche Brillanz war exquisit, sie sagte aber bald allen diesen Auftritten ab und zog sich ins Familienleben zurück. Die Bühne hat sie seither nicht mehr in einem größeren Rahmen bedient. Das Pop-Genre, das damals zu herrschen begann, war nicht ihr Ding.


In den Neunzigern war HR-Fernsehen noch leidlich anspruchsvoll

1993 und 1995 waren nochmal besondere Jahre im HR-Fernsehen. Die Kritische Theorie war für die Protestbewegten der Sechziger Jahre eine faszinierende Sache. Das hing mit der sublimen Sprache zusammen, die hochintellektualisierte Aussagen und Analysen ermöglichte. Allein Hans Jürgen Krahl war auf Augenhöhe mit seinem Lehrer Adorno. Ein trivialer Autounfall kostete ihn leider 1970 das Leben.

1993 glänzte der HR dadurch, dass er den Künstler und Schauspieler Alfred Edel mit dem Nachfolger auf dem Lehrstuhl von Theodor W. Adorno, Alfred Schmidt (* 19. Mai 1931 in Berlin; † 28. August 2012), zusammen brachte. Alfred Edel war in der frühen Bonner Republik eine sich in Schwabinger Künstlerkreisen bewegende illustre Gestalt, die auch die Entwicklungen der Klassischen Deutschen Philosophie, einschließlich der allerjüngsten, verfolgte und dadurch in den hiervon beleckten Kreisen Münchens und später auch Frankfurts zu unabhängigen Urteilen neigte und diese kommunizierte. Edel, der seit 1963 in Frankfurt lebte, wurde auch Mitgestalter der Neuen Frankfurter Schule. Edel bewegte sich wie der Fisch auf dem Campus des Lebens, er war kein Stubenphilosoph und Schwerenöter. Die Einheit von Kunst, Philosophie und Schwabing war für ihn der prägende Ansatz.


Anhand der Exilerfahrung in den USA gemeinsam verfasst

Alfred Schmidt 220px Kopie 31993 ließ der HR in der Sendung Hauptsache Kultur Alfred Edel und Prof. Dr. Alfred Schmidt aufeinander los. Ort der ausgelösten Debatte war das Café Laumer. Das gestellte Sujet war Horkheimers und Adornos epochale Schrift ‚Dialektik der Aufklärung‘. Sie handelt davon, wie Aufklärung sich dem Mythos und mithin der im Regelfall unabwendbaren Verstrickung in bloße Natur, entwindet und doch im Prozess der Moderne wieder in Mythos zurückschlägt, in die Abhängigkeit jener durch Aufklärung ermöglichten und geschaffenen Zweiten Natur, aber jetzt im Zeichen einer vermeintlich grenzenlosen Machbarkeit der Welt. Die  zurückschlägt in Unfreiheit. Deren Haupttriebfeder ist die grenzenlos ausgedehnte Herrschaft über die Natur und ein rücksichtsloser Fortschrittsglaube.


Entfesselte Naturbeherrschung

Aufklärung wendet sich also gegen sich selbst und ihr ursprüngliches Ziel, das Leben besser und von der alten Natur befreit zu gestalten. Doch kommt es zu neuen Abhängigkeiten von Apparaten, anonymen Systemen der Verwaltung und Herrschaft, symbolisiert in Fließbändern und Unterhaltungswaren, die nur reizen, aber nicht befriedigen. Ein Schwenk durch die Auslagen eines Eros-Centers illustriert dies. Der HR versinnbildlicht jene Fatalität in Modellen, die in Schaufenstern platziert sind und wie menschliche Auslagen fungieren. Es soll immer nur gereizt werden, nie aber befriedigt.

Der aufmüpfige Alfred Edel löckt im Disput mit Alfred Schmidt oft gegen die Schwärze jener ‚Dialektik der Aufklärung‘ von Adorno und Horkheimer, deren soziologisches Hauptwerk die Chancen, Verhältnisse zu gestalten und zugleich von der blinden Herrschaft einer immer zwanghafteren Zweiten (gesellschaftlichen) Natur befreit zu leben, als immer geringer möglich feststellt. Der Warencharakter und die Not sich zu verkaufen nehmen dem Humanum auf Dauer jegliche Chance. Das nachträgliche geschäftsmäßig angegangene Heilen von Geist und Körper ist selbst wieder kontaminiert, das Kind ist unwiederbringlich in den Brunnen gefallen.

Alfred EdelDie Kontroverse, die sich zwischen den beiden doch unterschiedlicher Hintergründe entspinnt, wäre einen neuen Abend wert, die Debatte mal wieder aufzugreifen. Aber derartige Kapitel sind dem HR offenbar keine Sekunde mehr wert. Es liegen Schätze im Archiv. Es fehlen Leute, sie zu heben. Leute, die die aufgeklärte Tradition vermitteln könnten. Die Verschiedenheit der Diskutanten ist der Motor hinsichtlich der ungeheuren Sache, die gegenwärtig erneuert zur Verhandlung anstünde. Ein zentrales Motiv, das die beiden kritisch aufgreifen, ist das Schwarze in der verhandelten Sache, also der Verstrickung der Menschheit in ‚das Unwesen‘, wie Adorno zu sagen beliebte. Wer könnte jene Schwärze bestreiten wollen. Die Düsternis der Situation kommt in der ‚Dialektik der Aufklärung‘ vor allem in dem berühmten Kapitel ‚Kulturindustrie‘ zur Sprache. Diese Industrie ist heutzutage allmächtig.


Horkheimer und Adorno, Dioskuren

Im selben Jahr (1993) sendete der HR auch eine Adorno-Nacht. Sie wurde von Gert Scobel moderiert, der sich in Reichweite des Campus, des Instituts für Sozialforschung Frankfurt - vor hundert Jahren gegründet - und jenes altehrwürdigen Gebäudekomplexes der Universität an der Mertonstraße, inklusive neuerer Hörsäle (deren Zeit nun auch begrenzt sein dürfte) bewegte und Blicke ermöglichte. Adorno hatte in seinen späten Tagen vehement dafür gesorgt, dass zum Wechseln über die Senckenberg-Allee und die Bahnen für die Autos zum neuen Hörsaal eine Ampel eingerichtet wurde.

Der Beitrag enthält auch ein vor etwa sechzig Jahren gesendetes Interview seitens eines SWR-Fernsehen/Rundfunk-Reporters mit Adorno, das tatsächlich unmittelbar noch gerade jetzt in der Mediathek des HR verfügbar ist. Sucht daher in HR-Mediathek nur nach: Adorno

-> hr Retro | hessenschau: Theodor W. Adorno - Zur Kritik am Medium Fernsehen | ARD Mediathek
(7:54 Minuten)

Bei allem aber ist unverkennbar, dass die Zeit der eminenten Geister und Persönlichkeiten der Vergangenheit angehört. Erklärt wird das durch die neue Unübersichtlichkeit. Aber das ist gar so leicht gesagt. Der Begriff Persönlichkeit selbst war Adorno ein fragwürdiger. Personalismus mochte er gar nicht.


Zum Dritten

Die Adorno-Nacht behandelt die Lebensläufe und Schicksale von Horkheimer und Adorno, die von der Zeit des Ersten Weltkriegs und des heraufziehenden Nationalsozialismus verformt wurden; sie behandelt sowohl die jugendlichen Zeiten als auch die Zeiten des Exils, vornehmlich in den Vereinigten Staaten, wo ihre Philosophie die Gestalt annahm, die sie sich doch nicht recht aussuchen konnten. Ihre Chance vor sich selbst war allein die Aufklärung und Aufdeckung hinsichtlich des Geschehenen und Vorgefallenen. Auch die spätere Studentenbewegung der Sechziger Jahre ist in einem kurzen Abriss vertreten. Diese Szenen verabreichen dem Gedächtnis ein dèjà vu, wobei die Interna und privaten Umstände und Verhältnisse der Akteure in gewisser Weise auch unterhaltsam und reizvoll mit hineinspielen. Aber Tragik ist auch unverkennbar. Selbstverständlich kommt auch die Konfrontation mit den radikalen Studentinnen und Studenten nicht zu kurz, die mit der Besetzung des Instituts und der durch Adorno herbeigeholten Polizei ein Ende findet.
Der dritte vertretene Bereich ist die Besprechung der 1995 erschienenen Gesamtausgabe der Schriften Horkheimers. Sie sind in der Stadtteilbibliothek von Frankfurt Sachsenhausen unter der Kategorie Philosophie an gegebener Stelle zu begutachten. Herausgeber ist Alfred Schmidt der im Rahmen der HR-Sendung ‚bücher bücher‘ dem Moderator Georg M. Hafner und den hierzu geneigten Zuschauern so manch aufschlussreiche Kenntnisse vermittelte. Für Horkheimer war die Jugendzeit im und als Folge des Ersten Weltkriegs prägend. Es war damals zu spüren, dass etwas Übles heraufzieht. Wie das geschah wird in selten ausgestrahlten Rückblenden verdeutlicht.

Foto 1 © AllMusic
Foto 2 © Barbara Klemm (groß in U-Bahnstation Universität Frankfurt- Bockenheim)
Foto 3 © filmstarts.de

Info:

- Adorno-Nacht, HR-Fernsehen, 1993
- Alfred und Alfred, mit Alfred Schmidt und Alfred Edel, Disputation, HR-Fernsehen, 1993
- Max Horkheimer, Gesamtausgabe, mit erklärenden Ausführungen von Alfred Schmidt, moderiert von Georg M.    Hafner, HR-Fernsehen, 1995