Bildschirmfoto 2022 09 17 um 08.42.15Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 15. September 2022, Teil 9

Redaktion

Frankfurt am Main (Weltexpresso)  – WER IST LORENZO CARDI?

Er ist vor allem ein Humanist. Wenn man Leiter eines Heims für unbegleitete Minderjährige ist, muss man seine Menschlichkeit über alles stellen. Er ist hilfsbereit, altruistisch, aber sein Altruismus stößt an seine Grenzen: Bei dem Versuch, Lösungen für diese Jugendlichen zu finden, trifft er er immer wieder auf Widerstände, auf Unverständnis, auf die Behäbigkeit der Verwaltung. Ich mag an ihm seinen Willen, für diese Jugendlichen so etwas wie ein Tutor, ein Lehrmeister zu sein. Er schenkt ihnen seine ganze Aufmerksamkeit, aber er kann die Kluft zwischen sich und ihnen nicht immer überwinden. Er ist an ihrer Seite, aber umgekehrt ist das nicht unbedingt der Fall.


REPRÄSENTIERT LORENZO DIE REGELN, WÄHREND CATHY MARIE EHER FÜR DIE EMANZIPATION STEHT, BIS HIN ZUM ZIVILEN UNGEHORSAM?

Lorenzo ist ein extrem geradliniger und gerechter Mensch, aber fast schon stolz darauf, dass er innerhalb der Grenzen und Regeln bleibt. Er ist widerstandsfähig, er hat kein Bedürfnis, anderen zu gefallen – das ist übrigens großartig zu spielen ist, denn es steht ziemlich im Widerspruch zum Beruf des Schauspielers, bei dem es im Grunde darum geht, zu verführen... Cathy Marie konfrontiert ihn dann mit der Realität: Seine Methoden reichen nicht mehr aus. Er muss die üblichen Wege verlassen, er muss in den sauren Apfel beißen und etwas tun, was nicht erlaubt, aber richtig ist. Ich liebe die Szenen, in denen er mit Cathy aneinander gerät. Als er sie zum ersten Mal durch die Jalousien aus seinem Büro beobachtet, sieht er in ihr einen Möchtegern-Star, die genauso wenig eine große Chefin ist wie er ein großer Direktor. Beide spielen eine Rolle, weil sie verwundete Seelen sind, auf der Suche nach einer Familie. Und beide wollen etwas Gutes tun, ohne dafür besondere Anerkennung einzufordern. Dass ihre Gemeinsamkeiten durch ihre unterschiedliche Sichtweisen verstellt sind, schafft eine Art Antagonismus, der sehr interessant zu spielen ist und den Situationen zusätzliche Tiefe verleiht.


HATTEN SIE DIESE TIEFE SCHON IM DREHBUCH WAHRGENOMMEN?

Ja, aber ich habe sie noch mehr gespürt, als ich den Film gesehen habe. Louis-Julien hat das Schwierigste gemeistert, was es im Kino gibt: Er hat ein ernstes, wichtiges und unbequemes Thema gewählt, er erzählt die Geschichten dieser Jugendlichen mit großem Respekt – und trotzdem hat er es geschafft, daraus eine Komödie mit wahrhaftigem Humor zu machen. LouisJulien ist nicht nur ein großer Regisseur, er versprüht Inspiration, er hat absolutes Vertrauen in die Schauspieler... An seinem Set herrscht eine große Freiheit, ohne dass dies seine Ansprüche mindert. Er weiß, was er will, geht aber auf alle Vorschläge ein, er arbeitet viel mit der Dynamik einer Gruppe. Sein gesamtes technisches Team, seine Filmfamilie, begleitet ihn seit jeher. Und ich bin immer bereit, mich einem Team von Enthusiasten anzuschließen. Es ist eine kollektive Arbeit, die durch die Bescheidenheit des Regisseurs verstärkt wird. Und durch seine Autorität - denn die braucht er, gerade wenn er Laien anleitet, die schnell auf ein falsches Gleis geraten können. Ehrlich gesagt, das ist ein Kino, das mit nichts, was ich bisher gemacht habe, vergleichbar ist.


WUSSTEN SIE, DASS ES EIN TRAUM VON LOUIS-JULIEN PETIT WAR, MIT IHNEN ZU ARBEITEN?

Nein, das hat er mir nie gesagt. Es war mein Friseur, der als Maskenbildner mit Louis-Julien zusammenarbeitet, der mir erzählte, dass er mich wegen der Rolle des Lorenzo Cardi anfragen wollte, sich aber nicht recht traute, weil es nicht die Hauptfigur war. Daraufhin rief ich Louis-Julien an und bat ihn, mich das Buch lesen zu lassen. Und ich fand es toll. Die Rolle ist zwar weniger groß, aber sie ist entscheidend in Bezug auf Cathy Marie und die Jugendlichen. Und ich möchte in solchen Filmen dabei sein: engagiert, populär und unterhaltsam, deswegen mache ich diesen Beruf. Es ist der Film, der zählt, nicht die Größe der Rolle. Und 48 Jahre Berufserfahrung haben mich gelehrt, dass ich nur so gut bin wie mein Partner. Es ist mir egal, ob die Kamera auf mich gerichtet ist. Wenn ich das Bestmögliche anbiete, wird er oder sie großartig sein und sich auch bei mir revanchieren. Und dieser Austausch von Großzügigkeit dient der Inszenierung. Claude Chabrol sagte, dass das Prinzip Schuss/Gegenschuss die Negation der Inszenierung sei. Bei Louis-Julien gibt es das nicht, seine Regie ist sehr beweglich. Bis hin zur Montage, die ungewöhnliche Emotionen entstehen lässt, die einen ohne Vorwarnung umwerfen. Sie sind kurz davor zu weinen und in der nächsten Einstellung, paff!, müssen Sie lachen. Louis-Julien will nicht den einfachen Weg gehen. Nehmen Sie die Röntgen-Sequenz: Sie hätte schwerfällig geraten können, aber das ist sie nicht. Louis-Julien versteht es, die Szene emotional aufzuladen und dabei die Ernsthaftigkeit zu bewahren. Er ist ein Architekt, ein Zauberer!


WIE WAR DIE ZUSAMMENARBEIT MIT AUDREY LAMY?

Ich hatte Audrey Lamy in einer Radiosendung gehört, in der sie von ihrem Wunsch erzählte, mit mir zu arbeiten. Ich war erstaunt, denn normalerweise nennen Schauspieler ihre Wunsch-Regisseure und nicht ihre Partner. Sie hat viel Esprit und Witz. Sie kann alles spielen: Drama, Action, Komödie. Sie kann zum Totlachen sein. Sie ist ein kleiner Chaplin mit einem Hauch von Bécassine, sie hat nie Angst davor, lächerlich zu sein, weil sie frei von jedem Egoismus ist. Sie ist eine der seltenen Anti-Narziss-Künstlerinnen, die Art von Partnerin, mit der man sich anfreunden möchte, fröhlich, großzügig, glücklich. Und am Set ist sie mit Herz und Seele dabei.


SIE HABEN DIE DREHARBEITEN MIT EINEM UNFALL BEGONNEN...

Ein dummer Zwischenfall, der passierte, weil ich mich selbst immer noch jung fühle. Aber Tatsache ist, dass ich 66 Jahre alt bin. Als ich auf den Fußballplatz kam, fingen die Kids gerade an zu spielen. Ich sollte sie bis zur Ankunft von Audrey betreuen, und da die Kamera auf mich gerichtet war, dachte ich, dass ich zwei oder drei Pässe spielen werde, um den anderen zu imponieren. Ein Typ nimmt mir den Ball ab, ich will kontern und plötzlich habe ich höllische Schmerzen. Ich humpele, ich verstehe es selber nicht. Louis-Julien interpretiert das als Improvisation und ruft mir zu, ich solle sagen: „Zerrung!“. Aber die Achillesferse war tatsächlich gerissen. Ich schlug Louis-Julien vor, mich zu ersetzen, aber er integrierte das Handicap in die Rolle, die durch die Verletzung irgendwie anrührend wird. Und schon hatte er ein Problem in einen Vorteil verwandelt. Das ist die Stärke von Louis-Julien.


WIE GESTALTETE SICH IHRE ZUSAMMENARBEIT MIT DIESEN UNBEGLEITETEN MINDERJÄHRIGEN JUGENDLICHEN?

Zuerst lernte ich sie kennen, indem ich mir die Videos anschaute, die sie für das Casting aufgenommen hatten. Sie waren glücklich, dass sie in einem echten Kinofilm mitspielten, und dabei waren sie von einer herzzerreißenden Bescheidenheit. Ihnen gegenüber gab es keinen François Cluzet und keine Audrey Lamy und keine Prominenz, wir waren alle gleichberechtigt und in einem ständigen Austausch. Und am Ende sind sie es, die den Film ausmachen, die ihm seine ganze Kraft verleihen.

Foto:
©Verleih

Info:
DIE KÜCHENBRIGADE (La brigade)
von Louis-Julien Petit, F 2022, 97 Min.
mit Audrey Lamy, François Cluzet, Chantal Neuwirth, Fatou Kaba, Yannick Kalombo
nach Idee von Sophie Bensadoun
Sozialkomödie