mittagSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 22. September 2022, Teil 7

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Wer Dörte Hansens Bestseller kennt, der wird sich im Film von Lars Jessen zu Hause fühlen. Aber auch die, die vorher nicht wissen, um was es geht, können in die Welt, von der man selten hört, das Leben auf dem Land, heute und in der späteren Nachkriegszeit der Sechziger und Siebziger. Daß man sich zeitlich zurechtfindet, erkennt man nicht nur an den unterschiedlichen Darstellern der literarischen Figuren, sondern natürlich am Drumherum, der Ausstattung, dem Zeitbezug u.a.

Hintergrund ist das frühere Leben des heutigen Hochschullehrers Ingwer Feddersen (Charly Hübner), das zum Thema wird, als seine Großeltern im heimatlichen, fiktiven nordfriesischen Dorf Brinkebüll nicht mehr allein zurechtkommen und er sich entschließt, sich für seine Stelle an der Uni Kiel für ein Jahr beurlauben zu lassen und den Großeltern zu helfen. Wir sind dabei, wenn er dies seiner coolen Frau im schicken Ambiente seines ansehnliches Hauses so nebenbei erzählt. Die hat gerade wieder mal ihre Freundinnen zu Gast. Man spürt sofort, daß sie ihr Leben lebt, an dem Ingwer wenig Anteil hat. Ein anderer Mann? Das auch, muß aber eigentlich nicht sein, wie sie nach einem Jahr merkt.

Wir sind auch dabei, wenn er nun mit seinem Wagen vor einer Gaststätte hält, die sein alter Großvater immer noch betreibt, während die Demenz seiner Großmutter fortgeschritten ist. Der Film steht und fällt mit seiner Hauptfigur Ingwer, dem Charly Hübner eine starke, auch sehr körperliche Präsenz gibt, was sein Plattdeutsch unterstützt. Er ist ein Fels in der Brandung, wo doch das, was wir nach und nach über sein Leben, über seine Großwerden, ja über seine Zeugung hören – und er hört es auch – ihm eigentlich den Boden unter den Füßen wegziehen müßte. Aber einmal ahnte er viel schon zuvor und die Hinfälligkeit seiner Großeltern tut ein Übriges, daß er als der starke Mann handeln muß. So ist eines der wichtigen Dinge, seinen Großvater zu überzeugen, daß er die Gastwirtschaft aufgeben muß.

Die Person, die verheimlichte Seite des Dorflebens personalisiert, ist Marret Feddersen (Gro Swantje Kohlhof), die auf Holzpantinen durch’s Dorf stolpernd, in den Händen den ‚Wachturm‘ der Zeugen Jehovas und skandierend: „Die Welt geit unner!, Die Welt geit unner!“ Daß ihr Geist schwach ist, sieht man sofort, aber ihr Fleisch gefällt bestimmten Männern, erst recht denen, die als Arbeiter von außerhalb ins Dorf kommen, also wieder abhauen können, wenn sie Marrets Ei erfolgreich befruchtet haben. Arme Marret, deren weiteres Schicksal wir nicht mitbekommen. Dafür erfahren wir aber, was es mit Ingwers Mutter auf sich hat und wie es war, als in der Kriegszeit seine Großmutter tiefe Liebe zum Dorfschullehrer fühlte, was dieser erwiderte, weshalb das Kind der Liebe dem Ehemann untergeschoben wurde. Denn Scheidungen oder so was, war im Dorf ausgeschlossen. Es mußte nach außen die Ordnung aufrechterhalten werden.

Dies Jahr wird für Charly – der zwischendurch nach Hause fährt und sich dort fremd fühlt – sozusagen die Standortbestimmung seines Seins, was beinhaltet, daß er stärker weiß, was er will.

Das ist das Inhaltliche. Wie nun der Film die verschiedenen zeitlichen Ebenen ineinanderschachtelt, ist so traumhaft wie traumverloren. Nie wirkt eine Szene wie inszeniert, sondern der Film schafft eine Abgehobenheit des Seins, die gleichzeitig jeweils ganz konkrete Lebenssituationen widerspiegeln. Das ist ein geschlossenes System dieser Film über die Familie Feddersen, an der wir 93 Filmminuten teilnehmen.

Foto:
©Verleih

Info:
Besetzung
Ingwer Feddersen                          Charly Hübner
Ingwer Feddersen (1965-1976)      Lennard Conrad
Sönke Feddersen                           Peter Franke
Sönke Feddersen (1965-1984)       Rainer Bock
Ella Feddersen                               Hildegard Schmahl
Ella Feddersen (1965-1976)           Gabriela Maria Schmeide
Marret (1965-1976)                        Gro Swantje Kohlhof
Ragnhild                                        Julika Jenkins
Claudius                                         Nicki von Tempelhoff
Heiko Ketelsen                              Jan Georg Schütte

Stab
Regie            Lars Jessen
Produktion   Lars Jessen, Klaas Heufer-Umlauf
Drehbuch Catharina Junk nach dem gleichnamigen Roman von Dörte Hansen