Dörte Hansen
Hamburg (Weltexpresso) -„Nachdem er Sönke abgetrocknet hatte, fing Ingwer an, ihn einzureiben, er massierte seine trockene Haut mit Arnikaöl. Seinen steifen Rücken und den Nacken, seine klapperdürren Arme, seine Beine. Auch die schlimmen Füße mit den Stummelzehen, Ingwer hatte sich an sie gewöhnen müssen. Und Sönke hatte sich an die Massageprozedur gewöhnen müssen. „Wat schall dat warrn, wenn dat hier fertig is? De Letzte Ölung?“
Man musste in der Welt von Sönke Feddersen schon mindestens halbtot sein, ehe jemand einem mit Massageöl zu Leibe rücken durfte. Er war nicht krank, er war gewaschen und gekämmt, er sah nicht die Notwendigkeit für dat Getüdel, aber er wehrte sich nicht mehr dagegen. Saß entspannt und döste halbwegs weg dabei, so schlimm war es dann scheinbar doch nicht.
Wat schall dat warrn? Das fragte Ingwer sich auch manchmal selbst. Er wusste nicht genau, warum er das hier machte. Und für wen. De Letzte Ölung? Jeder Satz ein Treffer. Der Alte konnte es noch immer.
Hier versuchte einer, kurz vor Torschluss sein Gewissen reinzuwaschen. Etwas wegzureiben mit ein bisschen Öl, heile, heile Gänschen, alles wieder gut. Und hatte wohl geglaubt, dass Sönke Feddersen das nicht kapierte.
Ingwer wusste nicht, wie viel er Sönke schuldete, wie tief er in den Miesen war, er konnte es nur schätzen. Undank, Untreue, Verrat, es kam schon einiges zusammen.
Er hatte Gasthof Feddersen auf dem Gewissen, Sönkes Lebenswerk, sein Erbe. Dass es hier jetzt so schäbig aussah, hoffnungslos, der große Saal so abgetakelt, lag an ihm. Er wäre dran gewesen und war abgehauen.
Es gab sie überall, in allen Dörfern, alte Landgasthöfe ohne Gäste. Trostlose Kaschemmen mit brutal verbauten Fronten, Plastikblumen hinter sprossenlosen Fenstern, graugewordene Gardinen, Bierreklame an der Wand und die Getränkekarte hinter Glas, noch mit der Schreibmaschine getippt. Sie standen an den Straßen, alt, verlassen und erbarmungswürdig hässlich. Die Jungen wollten sich das nicht mehr antun, Gastwirt sein, es war kein Job für Heuler. Sie wurden auch nicht mehr gebraucht, das Feierabendbier war ausgestorben. Die Männer in den Dörfern machten das nicht mehr, schnell vor dem Abendbrot noch einen trinken, gan mol um to Krogs, wenn sie vom Melken oder aus der Werkstatt kamen.
Die Leute hatten sich das abgewöhnt wie ihre Mittagsstunde, es legte sich jetzt kaum noch jemand hin tagsüber. Sie kamen auch nicht mehr zum Frühschoppen am Sonntag. Die jungen Väter fuhren schwimmen mit der Frau und mit den Kindern oder mussten ihre Sprösslinge zu Fußballspielen fahren. Gingen joggen oder brunchen. Bauten Carports, daddelten an ihren Spielkonsolen. Sie hatten ihre Arbeit ganz woanders, wohnten nur noch in den Dörfern, hatten Hobbys. Sie setzen sich nicht mehr zu Sönke Feddersen in seine Schankstube, rauchten Ernte 23, kippten Bier und Kümmerling, erklärten sich die Welt und hörten Schlager aus der Musikbox. Die Bauern, Bäckern, Schlosser, Zimmermänner, die am Mittag oder frühen Abend angetüdert aus dem Gasthof Feddersen gestolpert kamen, zweimal den Strich-Achter abwürgten und dann mit jaulendem Motor im dritten Gang nach Hause fuhren, gab es jetzt nicht mehr in Brinkebüll. Sie waren weg, verschwunden wie die Störche. Bis auf Paule Bahnsen, Sönkes treuen Frühschoppen- und Feierabendgast, den Letzten seiner Art, der immerhin betrunken Dreirad fuhr. Mit Helm.
Aber Sönke Feddersen war nicht so dumm, den alten Zeiten nachzuheulen, er hatte schon sehr früh verstanden, dass sich alles ändern würde. Alles schon geplant: die Bundeskegelbahn, die neuen Fremdenzimmer, Anbau für die neue Küche, Wintergarten für die Frühstücksgäste und die kaffeetrinkenden Touristen. Das Vieh verkauft, das Land verpachtet und sogar schon bei der Bank gewesen.
Und dann de ganze Schiet verbrennt, weil Ingwer Feddersen zu den Studierern wollte.
Das kam dabei heraus, wenn man die Jungen fragte.
Niemand hatte Sönke Feddersen gefragt, mit fünfzehn, ob er Gastwirt werden wollte. Ob ihm das wohl Freude bringen würde, ihn erfüllen, glücklich machen: Kröger sein und Bauer nebenbei, so wie sein Vater und sein Großvater. Es spielte keine Rolle, was man wollte. Man erbt es, man heulte nicht, man machte es.
Er war dagegen gewesen, dass Ingwer Feddersen nach Husum auf die Oberschule kam. Ella dafür – und Lehrer Steensen selbstverständlich auch, dringende Empfehlung fürs Gymnasium, noch zweimal unterstrichen, so als wäre Sönke Kröger blind. So blind wie er, Schoolmeester Steensen mit dem schwarzen Anzug, der ohne seine dicke Brille nicht sein eignes Gesicht im Spiegel sehen konnte. So blind, dass sie ihn nicht mal in der Wehrmacht haben wollten. Dringende Empfehlung! Also hatten sie den Jungen selbst gefragt, und Sönke hatte es schon gewusst, dass das ein Fehler war. Dass Steensen ihn längst unter seiner Fuchtel hatte, ihm das eingeredet mit dem Abitur und mit den Büchern und mit den verdammten Steinen.
Hä! Op de hoge School!
Es war, nach der Flucht vor seinem Messerhaarschnitt, Ingwers zweiter schwerer Akt von Untreue an Sönke Feddersens gewesen. Er hatte nicht gewagt, ihn anzusehen, als Ella ihm die Frage stellte. Auf den Tisch geguckt, auf seinen Teller, auf die Hände, auf die Küchenuhr, zwanzig Minuten nach zwölf. „Denn gah ik na Husum.“ Ella angesehen, nicht den Alten, der dann aufstand, ins Kontor ging, in die Mittagsstunde, und auf dem Weg dahin sein Hä! ausspuckte, als hätte er auf etwas Widerwärtiges, Verdorbenes gebissen.
Der dritte Akt: Mit Karl Fidel Baumann Sönkes Plattensammlung durchgestöbert, heimlich im Kontor, und sich kaputtgelacht über die Oberkrainer, Rauschen Birken, Klarinetten-Polka und Trompetenecho. Nicht gemerkt, dass Sönke Feddersens schon ziemlich lange an der Tür gestanden hatte.
Der vierte Akt: Bei der Marschprobe mit dem Feuerwehrmusikzug Brinkebüll absichtlich aus dem Takt gegangen. Große Wende, linker Fuß auf 1 und 3, nur Ingwer Feddersen auf 2 und 4. Rauschgeschmissen worden, endlich.
Der fünfte Akt: Die zwölfsaitige Ibanez gekauft und dafür heimlich das Tenorhorn in Zahlung gegeben.
Ingwer konnte heute noch nicht daran denken, ohne sich zu schämen. Und er konnte hier so lange waschen und herummassieren wie er wollte, davon wurde es nicht anders.
Sönke drehte sich auf einmal um zu ihm, aus seiner Döserei erwacht. Er sah ihn an, ein bisschen spöttisch, dann fragte er: „Wat maakst du, wenn din Bummel-Johr vörbi is, un wi denn immer noch nich doot sind, Mudder un ik?“ Es klang, als wäre ihm das gerade eingefallen, nicht sonderlich besorgt.
Ingwer hatte sich das selbst schon ein paarmal gefragt, die Frage aber immer schnell verdrängt. Jetzt zuckte er die Achseln. „Dat weet ik nich“, sagte er. „Denn mutt ik jem wull dootscheten, oder? Nützt je nix.“
Sönke fing zu lachen an, es klang wie Husten, schwerer Anfall, er wurde richtig durchgeschüttelt. „Du un mi scheten! Du weetst nich mol, wo vörn und achtern is bi so’n Gewehr.“ Selten so gelacht. Du un mi scheten! Ein nackter, alter Mann, bis auf die Knochen abgemagert, und er hielt sich immer noch für unbesiegbar. Er war der Härteste.
Man braucht sich um Sönkes Seelenheil wahrscheinlich nicht zu sorgen. Er hatte schon ganz andere Dinge ausgehalten als die paar schwachen Schläge eines Jungen, der erwachsen wurde.
Einmal aufgelistet, kamen Ingwer Feddersen seine Verbrechen an dem Alten auch nicht sonderlich monströs vor. Kein Mord, kein Hochverrat.
Wat schall dat warrn? Er wusste, dass er das hier nicht zu machen brauchte, Sönke waschen und mit Ella durch die Feldmark tigern. Hausfrau spielen, sie zu ihren Ärzten kutschieren und sich das Gemecker anhören, wenn das Essen nicht um Punkt zwölf auf dem Tisch stand. Nichts davon verlangten sie von ihm. Er wollte es. Er holte sich hier etwas ab, was ihm noch fehlte. Einen Nachschlag Brinkebüll. Er fand Dinge wieder, die er noch gebrauchen konnte, manches hatte er schon fast vergessen. Die Gerüche und Geräusche dieses Hauses. Das Gefühl für dieses Dorf, das viel mehr von ihm wusste als er selbst. Er schien hier in sich selbst zu stöbern, aufzuräumen, kramte auf verstaubten Böden, fand auch alte Wörter wieder die er seit Jahrzehnten nicht gehört oder gesagt hatte. Schiddeln, quesen, schietenhild. Sein Plattdeutsch kam ihm vor wie eine Taschenuhr, geerbt von Sönke Feddersen, sie passte nicht mehr richtig in die Zeit, ging aber noch. Nicht praktisch, aber er behielt sie trotzdem, weil er ihre Schlichtheit mochte, ihre ehrliche Mechanik. Weil sie zu ihm passte.
Lehrer Steensen hatte es dann doch nicht ganz geschafft, die Sprache der Bornierten und Beschränkten abzuschaffen, auch wenn viele Brinkebüller Eltern sich gefügt hatten. Ihre Kinder sollten es mal besser haben, also sprachen sie doch lieber Hochdeutsch – oder das, was sie für Hochdeutsch hielten, oft konnten sie es selbst nicht richtig. Komm hin nach Papa. Lass das nach. Geh mal bei und mach das Shap rein. Das hörte sich dann noch beschränkter an. Sönke hatte nicht im Traum daran gedacht. Hochdüütsch schnacken in min egen Huus! Er sprach bis heute mit fast jedem Menschen Platt, der in den Gasthof kam. Nicht sein Problem, wenn ihn die anderen nicht verstanden.“
(aus: Dörte Hansen, Mittagsstunde – Penguin Random House, 1. Auflage paperback 2021, S. 254-260)
Foto:
Umschlagbild
Info:
Besetzung
Ingwer Feddersen Charly Hübner
Ingwer Feddersen (1965-1976) Lennard Conrad
Sönke Feddersen Peter Franke
Sönke Feddersen (1965-1984) Rainer Bock
Ella Feddersen Hildegard Schmahl
Ella Feddersen (1965-1976) Gabriela Maria Schmeide
Marret (1965-1976) Gro Swantje Kohlhof
Ragnhild Julika Jenkins
Claudius Nicki von Tempelhoff
Heiko Ketelsen Jan Georg Schütte
Stab
Regie Lars Jessen
Produktion Lars Jessen, Klaas Heufer-Umlauf
Drehbuch Catharina Junk nach dem gleichnamigen Roman von Dörte Hansen
Abdruck aus dem Presseheft
Hier versuchte einer, kurz vor Torschluss sein Gewissen reinzuwaschen. Etwas wegzureiben mit ein bisschen Öl, heile, heile Gänschen, alles wieder gut. Und hatte wohl geglaubt, dass Sönke Feddersen das nicht kapierte.
Ingwer wusste nicht, wie viel er Sönke schuldete, wie tief er in den Miesen war, er konnte es nur schätzen. Undank, Untreue, Verrat, es kam schon einiges zusammen.
Er hatte Gasthof Feddersen auf dem Gewissen, Sönkes Lebenswerk, sein Erbe. Dass es hier jetzt so schäbig aussah, hoffnungslos, der große Saal so abgetakelt, lag an ihm. Er wäre dran gewesen und war abgehauen.
Es gab sie überall, in allen Dörfern, alte Landgasthöfe ohne Gäste. Trostlose Kaschemmen mit brutal verbauten Fronten, Plastikblumen hinter sprossenlosen Fenstern, graugewordene Gardinen, Bierreklame an der Wand und die Getränkekarte hinter Glas, noch mit der Schreibmaschine getippt. Sie standen an den Straßen, alt, verlassen und erbarmungswürdig hässlich. Die Jungen wollten sich das nicht mehr antun, Gastwirt sein, es war kein Job für Heuler. Sie wurden auch nicht mehr gebraucht, das Feierabendbier war ausgestorben. Die Männer in den Dörfern machten das nicht mehr, schnell vor dem Abendbrot noch einen trinken, gan mol um to Krogs, wenn sie vom Melken oder aus der Werkstatt kamen.
Die Leute hatten sich das abgewöhnt wie ihre Mittagsstunde, es legte sich jetzt kaum noch jemand hin tagsüber. Sie kamen auch nicht mehr zum Frühschoppen am Sonntag. Die jungen Väter fuhren schwimmen mit der Frau und mit den Kindern oder mussten ihre Sprösslinge zu Fußballspielen fahren. Gingen joggen oder brunchen. Bauten Carports, daddelten an ihren Spielkonsolen. Sie hatten ihre Arbeit ganz woanders, wohnten nur noch in den Dörfern, hatten Hobbys. Sie setzen sich nicht mehr zu Sönke Feddersen in seine Schankstube, rauchten Ernte 23, kippten Bier und Kümmerling, erklärten sich die Welt und hörten Schlager aus der Musikbox. Die Bauern, Bäckern, Schlosser, Zimmermänner, die am Mittag oder frühen Abend angetüdert aus dem Gasthof Feddersen gestolpert kamen, zweimal den Strich-Achter abwürgten und dann mit jaulendem Motor im dritten Gang nach Hause fuhren, gab es jetzt nicht mehr in Brinkebüll. Sie waren weg, verschwunden wie die Störche. Bis auf Paule Bahnsen, Sönkes treuen Frühschoppen- und Feierabendgast, den Letzten seiner Art, der immerhin betrunken Dreirad fuhr. Mit Helm.
Aber Sönke Feddersen war nicht so dumm, den alten Zeiten nachzuheulen, er hatte schon sehr früh verstanden, dass sich alles ändern würde. Alles schon geplant: die Bundeskegelbahn, die neuen Fremdenzimmer, Anbau für die neue Küche, Wintergarten für die Frühstücksgäste und die kaffeetrinkenden Touristen. Das Vieh verkauft, das Land verpachtet und sogar schon bei der Bank gewesen.
Und dann de ganze Schiet verbrennt, weil Ingwer Feddersen zu den Studierern wollte.
Das kam dabei heraus, wenn man die Jungen fragte.
Niemand hatte Sönke Feddersen gefragt, mit fünfzehn, ob er Gastwirt werden wollte. Ob ihm das wohl Freude bringen würde, ihn erfüllen, glücklich machen: Kröger sein und Bauer nebenbei, so wie sein Vater und sein Großvater. Es spielte keine Rolle, was man wollte. Man erbt es, man heulte nicht, man machte es.
Er war dagegen gewesen, dass Ingwer Feddersen nach Husum auf die Oberschule kam. Ella dafür – und Lehrer Steensen selbstverständlich auch, dringende Empfehlung fürs Gymnasium, noch zweimal unterstrichen, so als wäre Sönke Kröger blind. So blind wie er, Schoolmeester Steensen mit dem schwarzen Anzug, der ohne seine dicke Brille nicht sein eignes Gesicht im Spiegel sehen konnte. So blind, dass sie ihn nicht mal in der Wehrmacht haben wollten. Dringende Empfehlung! Also hatten sie den Jungen selbst gefragt, und Sönke hatte es schon gewusst, dass das ein Fehler war. Dass Steensen ihn längst unter seiner Fuchtel hatte, ihm das eingeredet mit dem Abitur und mit den Büchern und mit den verdammten Steinen.
Hä! Op de hoge School!
Es war, nach der Flucht vor seinem Messerhaarschnitt, Ingwers zweiter schwerer Akt von Untreue an Sönke Feddersens gewesen. Er hatte nicht gewagt, ihn anzusehen, als Ella ihm die Frage stellte. Auf den Tisch geguckt, auf seinen Teller, auf die Hände, auf die Küchenuhr, zwanzig Minuten nach zwölf. „Denn gah ik na Husum.“ Ella angesehen, nicht den Alten, der dann aufstand, ins Kontor ging, in die Mittagsstunde, und auf dem Weg dahin sein Hä! ausspuckte, als hätte er auf etwas Widerwärtiges, Verdorbenes gebissen.
Der dritte Akt: Mit Karl Fidel Baumann Sönkes Plattensammlung durchgestöbert, heimlich im Kontor, und sich kaputtgelacht über die Oberkrainer, Rauschen Birken, Klarinetten-Polka und Trompetenecho. Nicht gemerkt, dass Sönke Feddersens schon ziemlich lange an der Tür gestanden hatte.
Der vierte Akt: Bei der Marschprobe mit dem Feuerwehrmusikzug Brinkebüll absichtlich aus dem Takt gegangen. Große Wende, linker Fuß auf 1 und 3, nur Ingwer Feddersen auf 2 und 4. Rauschgeschmissen worden, endlich.
Der fünfte Akt: Die zwölfsaitige Ibanez gekauft und dafür heimlich das Tenorhorn in Zahlung gegeben.
Ingwer konnte heute noch nicht daran denken, ohne sich zu schämen. Und er konnte hier so lange waschen und herummassieren wie er wollte, davon wurde es nicht anders.
Sönke drehte sich auf einmal um zu ihm, aus seiner Döserei erwacht. Er sah ihn an, ein bisschen spöttisch, dann fragte er: „Wat maakst du, wenn din Bummel-Johr vörbi is, un wi denn immer noch nich doot sind, Mudder un ik?“ Es klang, als wäre ihm das gerade eingefallen, nicht sonderlich besorgt.
Ingwer hatte sich das selbst schon ein paarmal gefragt, die Frage aber immer schnell verdrängt. Jetzt zuckte er die Achseln. „Dat weet ik nich“, sagte er. „Denn mutt ik jem wull dootscheten, oder? Nützt je nix.“
Sönke fing zu lachen an, es klang wie Husten, schwerer Anfall, er wurde richtig durchgeschüttelt. „Du un mi scheten! Du weetst nich mol, wo vörn und achtern is bi so’n Gewehr.“ Selten so gelacht. Du un mi scheten! Ein nackter, alter Mann, bis auf die Knochen abgemagert, und er hielt sich immer noch für unbesiegbar. Er war der Härteste.
Man braucht sich um Sönkes Seelenheil wahrscheinlich nicht zu sorgen. Er hatte schon ganz andere Dinge ausgehalten als die paar schwachen Schläge eines Jungen, der erwachsen wurde.
Einmal aufgelistet, kamen Ingwer Feddersen seine Verbrechen an dem Alten auch nicht sonderlich monströs vor. Kein Mord, kein Hochverrat.
Wat schall dat warrn? Er wusste, dass er das hier nicht zu machen brauchte, Sönke waschen und mit Ella durch die Feldmark tigern. Hausfrau spielen, sie zu ihren Ärzten kutschieren und sich das Gemecker anhören, wenn das Essen nicht um Punkt zwölf auf dem Tisch stand. Nichts davon verlangten sie von ihm. Er wollte es. Er holte sich hier etwas ab, was ihm noch fehlte. Einen Nachschlag Brinkebüll. Er fand Dinge wieder, die er noch gebrauchen konnte, manches hatte er schon fast vergessen. Die Gerüche und Geräusche dieses Hauses. Das Gefühl für dieses Dorf, das viel mehr von ihm wusste als er selbst. Er schien hier in sich selbst zu stöbern, aufzuräumen, kramte auf verstaubten Böden, fand auch alte Wörter wieder die er seit Jahrzehnten nicht gehört oder gesagt hatte. Schiddeln, quesen, schietenhild. Sein Plattdeutsch kam ihm vor wie eine Taschenuhr, geerbt von Sönke Feddersen, sie passte nicht mehr richtig in die Zeit, ging aber noch. Nicht praktisch, aber er behielt sie trotzdem, weil er ihre Schlichtheit mochte, ihre ehrliche Mechanik. Weil sie zu ihm passte.
Lehrer Steensen hatte es dann doch nicht ganz geschafft, die Sprache der Bornierten und Beschränkten abzuschaffen, auch wenn viele Brinkebüller Eltern sich gefügt hatten. Ihre Kinder sollten es mal besser haben, also sprachen sie doch lieber Hochdeutsch – oder das, was sie für Hochdeutsch hielten, oft konnten sie es selbst nicht richtig. Komm hin nach Papa. Lass das nach. Geh mal bei und mach das Shap rein. Das hörte sich dann noch beschränkter an. Sönke hatte nicht im Traum daran gedacht. Hochdüütsch schnacken in min egen Huus! Er sprach bis heute mit fast jedem Menschen Platt, der in den Gasthof kam. Nicht sein Problem, wenn ihn die anderen nicht verstanden.“
(aus: Dörte Hansen, Mittagsstunde – Penguin Random House, 1. Auflage paperback 2021, S. 254-260)
Foto:
Umschlagbild
Info:
Besetzung
Ingwer Feddersen Charly Hübner
Ingwer Feddersen (1965-1976) Lennard Conrad
Sönke Feddersen Peter Franke
Sönke Feddersen (1965-1984) Rainer Bock
Ella Feddersen Hildegard Schmahl
Ella Feddersen (1965-1976) Gabriela Maria Schmeide
Marret (1965-1976) Gro Swantje Kohlhof
Ragnhild Julika Jenkins
Claudius Nicki von Tempelhoff
Heiko Ketelsen Jan Georg Schütte
Stab
Regie Lars Jessen
Produktion Lars Jessen, Klaas Heufer-Umlauf
Drehbuch Catharina Junk nach dem gleichnamigen Roman von Dörte Hansen
Abdruck aus dem Presseheft