mittagsSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 22. September 2022, Teil 5

Lars Jessen

Hamburg (Weltexpresso) - Mittagsstunde hat mich kalt erwischt. Als mir der Roman vorgeschlagen wurde, weil darin ein Thema behandelt wird, mit dem ich mich schon seit Jahren beschäftige – das Aussterben der Landgasthöfe in Schleswig-Holstein – ahnte ich nicht, wie viel mehr darin steckt und wie sehr ich mich persönlich in dem Buch wiederfinden würde. Für mich ist Mittagsstunde in der Genauigkeit der Milieuschilderung und der Zugewandtheit zu den Figuren ein großes Stück deutscher Literatur.

Dörte Hansen hat es geschafft, eine Kultur zu definieren, die von den Menschen, die diese Kultur gelebt haben, wahrscheinlich nicht einmal selbst als solche empfunden wird oder besser wurde. Das so präzise wie Dörte Hansen auf den Punkt zu bringen, ist mir in meiner Arbeit bisher nicht gelungen.

Die Latte lag also hoch und die Verfilmung war eine gigantische Aufgabe. Nicht nur weil der Roman keine klassische Dramaturgie anbietet, sondern auch durch die Fülle an Figuren, die verschiedenen Zeitebenen und die großen Themen, die diesen Stoff ausmachen. Kurz vor Drehbeginn habe ich nochmal das Hörbuch, gelesen von Hannelore Hoger, angehört. Satte 20 Stunden dauert es und gibt die emotionale Wucht der Vorlage sehr eindrucksvoll wieder. Ein paar Monate später sind wir jetzt auf meiner Ziellänge, dem fertigen Film in unter zwei Stunden Spielzeit, angekommen.

Was waren die großen Meilensteine dieser Reise?

Am Anfang stand natürlich die Begegnung mit Dörte Hansen, bei der wir schon viele Gemeinsamkeiten feststellten. Den ersten Landgasthof betrat ich mit 9 Jahren, kurz nachdem ich mit meiner Mutter nach Eggstedt/ Dithmarschen in eine Aussteigerkommune gezogen war. Verfilmt habe ich diese Phase meines Lebens vor ein paar Jahren in „Am Tag als Bobby Ewing starb“ mit hoffentlich spürbarer großer Liebe zu den Menschen in diesem Ort. Hinter dem nüchternen Pragmatismus, mit dem mir mit meinen langen blonden Haaren im örtlichen Landgasthof begegnet wurde, verbarg sich eine hinter Panzerglas versteckte Herzlichkeit. Erst nach der Lektüre von Mittagsstunde ist mir emotional klar geworden, wie sehr das Dorf und seine Bewohner, mich als einziges Kind inmitten verwirrter hedonistischer Erwachsener in unserer Kommune gerettet hat.

Auch in der Dorfschule meiner Kindheit kämpfte unsere Lehrerin gegen das Plattdeutsche und ich durfte wie Mittagsstundes' Ingwer Feddersen mit einer Leseratte aus dem Nachbardorf als einziger aufs Gymnasium und wurde Fahrschüler. Die Bindung zum Dorf, in dem heute wohl nur noch knapp 200 Menschen leben, blieb auch nach dem Umzug in eine Kleinstadt an der Nordsee erhalten. Die Flurbereinigung, die Asphaltierung der Dorfstraße, die immer größer werdenden Felder und Landmaschinen, die Neubaugebiete, der Niedergang der Höfe und des Gasthofs habe ich als Kind und Jugendlicher hingenommen ohne damals schon zu spüren, wie tiefgreifend der Wandel sich vollzog. Das wird erst in der Rückschau und im Blick desjenigen fassbar, der sich entfernt hat und nach der Schule einen nach Süden fahrenden Zug bestiegen hat.

Nach den vertrauensbildenden Maßnahmen haben wir dann unter Federführung der Drehbuchautorin Catharina Junk, des Dramaturgen Bernhard Gleim und in regelmäßigem Austausch mit Dörte Hansen einen filmischen Weg gefunden, der die Identität des Romans vollständig bewahren sollte. Die langsame Entwicklung des Protagonisten Ingwer Feddersen wollten wir in all ihrer Zartheit nicht künstlich zuspitzen. Auch den Sprung zwischen den Zeitebenen und den einzelnen Erzählsträngen wollten wir unbedingt beibehalten. Ein Fest wie auch eine große Herausforderung zugleich für alle am Set, vor allem für das Szenen-, Kostüm- und Maskenbild. Anders als der Roman erzählt unser Film aber deutlich stärker aus einer klaren Erzählperspektive heraus, in der 1. Person Singular sozusagen. Mit einer zentralen Hauptfigur, deren Blick uns durch die Zeitebenen und Perspektiven der Geschichte führt.

Sehr klar war für mich, dass diese Aufgabe nur Charly Hübner bewältigen könnte. Einen über eine weite Strecke passiven beobachtenden Helden zu verkörpern, der uns mit seinen Blicken und Körperhaltungen all die Spannung liefern muss, die unter der Oberfläche der komplexen familiären Verstrickung gärt, ist gigantisch schwer. Dieses feine magnetische Spiel beherrscht Hübner wie kein Zweiter. Er und Ingwer sind in MITTAGSSTUNDE buchstäblich verschmolzen. Seine großartige Arbeit ist das emotionale Zentrum des Films und spiegelt sich auf kongeniale Weise mit dem Spiel von Gro Swantje Kohlhof, die Ingwers Mutter Marrett verkörpert. Beide waren nie gemeinsam am Set und ziehen sich trotzdem gegenseitig durch den Film wie zwei Tänzer an unsichtbaren Seilen.

Auf ihrer jeweiligen Zeitebene hatten die beiden großartige Mitspieler in denselben Rollen, nur mit 40 Jahren Altersunterschied. Hildegard Schmahl und Peter Franke haben uns bei den Dreharbeiten sehr berührt. Ihr Mut zwei sprachlose Menschen am Ende ihres Lebens mit all der Verzweiflung und gleichzeitig mit Stolz und Würde zu spielen, habe ich als großes Geschenk empfunden.

Den Boden dafür haben Gabriela Maria Schmeide und Rainer Bock bereitet, die ihren Figuren bei all der Schroffheit eine besondere Verletzlichkeit und Tiefe gegeben haben, die sich in ihren 40 Jahre älteren Alter Egos dann auf sehr berührende Art wiederfindet.

Nicht zuletzt Lennard Conrad als junger Ingwer und Julika Jenkins und Nicki von Tempelhoff als Ingwers LebenspartnerInnen aus der Kieler WG geben dem Ensemble eine bis in jede Szene hineinwirkende Glaubwürdigkeit und Lebendigkeit.

Die Dreharbeiten waren ein echter Ritt. Nicht nur wegen der komplexen Anforderung, aus sechs verschiedenen teilweise über 50 km voneinander entfernten Drehorten ein Dorf zusammen zu bauen, das in den Jahren 1965, 1976 und 2020 funktioniert. Natürlich hatten wir den Anspruch die besondere Werktreue auch im Dialog zum Ausdruck zu bringen und haben jeden einzelnen Take nicht nur auf Hochdeutsch sondern auch in nordfriesischem Platt gedreht. Es gibt also zwei sprachliche Fassungen des Films. Eine große Leistung der SchauspielerInnen, die sich vor jedem Take die von Dörte Hansen aufgenommenen Dialogzeilen einprägen und entsprechend ein sehr sensibles Sprachvermögen mitbringen mussten. Natürlich bedeutete das auch höchste Anspannung bei jedem Teammitglied, weil jeder kleinste Fehler dieses Unterfangen ad absurdum geführt hätte. Wir sind durchgekommen. Eine unglaubliche Leistung aller Beteiligter!

Besonders hängen geblieben sind bei mir aber auch die Begegnungen mit den AnwohnerInnen der Dörfer, in denen wir stark befahrene Straßen sperren und wieder in den Zustand von 1965 versetzen konnten. Die Menschen fühlten sich wie wir zurück versetzt in eine Zeit, in der Kinder gefahrlos auf der Straße spielen konnten, sich das dörfliche Leben vor der Haustür abspielte und das Dorf buchstäblich wieder auflebte. Und das ist es ja, was Dörte Hansens Roman so spürbar macht: Den Verlust dieser Kultur, dieser Art zu leben, die vom zwischenmenschlichen direkten Austausch geprägt war. Vom Schnack beim Bäcker, auf dem Feld, in der Kneipe. Ich vermute in diesen Momenten spürten die Menschen, die uns bei der Arbeit zugeschaut haben, ebenso wie wir, was da verloren gegangen ist und was sie dafür bekommen haben: Neubaugebiete, große Fernseher, gesichtslose Discountermärkte und LKWs, die den täglichen Spaziergang zur lebensgefährlichen Angelegenheit machen.

All diese Erfahrungen blieben im Schnitt von Sebastian Thümler sehr präsent. In einem monatelangen Prozess haben wir die emotionalen Bögen herausgearbeitet und versucht, einen Sog in Gang zu setzen, der vom sehr eigenständigen Score von Jakob Ilja angetrieben wird. Natürlich erklingen, wie im Roman, zahlreiche Schlager der 60er Jahre, in denen das 17. Lebensjahr ein wiederkehrendes Thema ist. Sie sind Ausdruck der Verlorenheit der Figuren in MITTAGSSTUNDE, die sich nur zaghaft trauen ihre Träume und Sehnsüchte zu formulieren. Kaum sind sie sich halbwegs bewusst, was sie vom Leben wollen, neigt es sich schon wieder dem Ende zu.

Foto:
©Verleih

Info:
Besetzung
Ingwer Feddersen                          Charly Hübner
Ingwer Feddersen (1965-1976)      Lennard Conrad
Sönke Feddersen                           Peter Franke
Sönke Feddersen (1965-1984)       Rainer Bock
Ella Feddersen                               Hildegard Schmahl
Ella Feddersen (1965-1976)           Gabriela Maria Schmeide
Marret (1965-1976)                        Gro Swantje Kohlhof
Ragnhild                                        Julika Jenkins
Claudius                                         Nicki von Tempelhoff
Heiko Ketelsen                              Jan Georg Schütte

Stab
Regie            Lars Jessen
Produktion   Lars Jessen, Klaas Heufer-Umlauf
Drehbuch Catharina Junk nach dem gleichnamigen Roman von Dörte Hansen

Abdruck aus dem Presseheft