marie unterwegsSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 6. September 2022, Teil 16

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Ein sympathischer, eher kleiner Film, der gleichwohl eine Menschheitsfrage stellt und beantwortet: Wie sieht es aus mit unserer eigenen, also ganz persönlichen Verantwortung für die Welt. Nehmen wir sie wahr und wie? Stellvertretend für uns wird vom Regisseur an vier Protagonisten und ihrem Handeln ein Einsatz für die Welt, für andere vorgemacht, der fast noch mehr Fragen stellt, als daß er uns Antworten gibt.

Regisseur ist David Clay Diaz, ein Wiener, von dem wir noch viel hören werden, da bin ich überzeugt, denn man fühlt den ganzen Film hindurch, daß da noch mehr kommt. Auf jeden Fall ist seine eigene Biographie schon mal filmreif. In Paraguay 1989 als Peruaner geboren, in Lima aufgewachsen, zog er zu seiner Mutter, die einen Österreicher geheiratet hatte. Regie studiert hat er ab 2010 an der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film (HFF) und schon alle möglichen Preise gewonnen.

Es beginnt mit Marie (Theresa Altenburger) , die den Film über die Dominante bleiben wird, weil ihre Leinwandpräsenz alle anderen unterbuttert. Das ist nicht negativ gemeint, sondern im Gegenteil voller Hochachtung geschrieben. Sie hat im Spiel dieser vier Protagonisten die Rolle der Naiven, Gutgläubigen, die Welt Rettenwollenden. Mit allen Vorteilen und Nachteilen. Wir lernen sie im Gruppenleben kennen, wie sie lernt, mit Rucksack über Stock und Stein zu laufen, die die Natur liebt und die Menschen auch und deshalb mit gepacktem Rucksack sich zur Überraschung ihrer Umwelt auf den Weg macht nach Lesbos, um dort vor Ort gestrandeten Migranten zu helfen.

Schon bei den ersten Bildern von Lesbos kann ich nicht anders, als an den italienischen Film zu denken, in dem unmittelbar nach dem Flüchtlingsjahr 2015 Gianfranco Rosi seinen Film FUOCOAMMARE / Seefeuer auf der Berlinale zeigte und dafür den Goldenen Bären 2016 gewann. So lange schon her und erst von heute her noch einmal zu bewundern, wie Rosi die Zustände auf Lampedusa, wo zeitweise mehr Flüchtlinge als Einwohner lebten, so schnell zu einem Dokumentarfilm verarbeiten konnte. Wo damals mit den Flüchtlingen Arbeit en masse verbunden war, warten nun in Lesbos die inoffiziellen Helfer auf diejenigen, die den Weg übers Meer schaffen. Vor allem Marie wartet, denn dazu ist sie ja hergekommen. Den ganzen weiten Weg. Als kein Flüchtling in Sicht ist, heuert sie auf dem Boot der NGO an, aber gerade dann wird denen die Flagge entzogen und sie dürfen ohne nicht auslaufen.

Was hier von Marie erzählt wird, wird im Film in das Geschehen der anderen verwoben. Mal sind wir in Wien bei Gerald (Lukas Miko), der ein Heim für geflüchtete junge Männer leitet, oder bei Petra (Barbara Romaner), einer Fernsehredakteurin, die dem jungen syrischen Flüchtling Mohammed in ihrer Wohnung aufnimmt. Und dann erleben wir in der Provinz auch noch mit Marcel (Alexander Srtschin), wie er mit Freunden die ‚Schutzengel AG‘ gründet, die junge Mädchen von Tanzveranstaltungen und anderem kostenlos nach Hause begleitet, damit sie nicht vom ausländischen Kroppzeug belästigt werden. Aha, dachte ich, das ist ja die beste Anmache von Jungs an Mädchen, sich als deren Beschützer aufzuspielen. Aber dazu sind diese Burschen zu naiv und selbstgefällig.

Gerald und Petra entwickeln sich zu Unsympathlingen – aus unterschiedlichen Gründen. Bei Gerald ist es sein Harmonie- und Führungsstreben, das ihn, als einer der Flüchtlinge, ein Schwarzer, nicht nur lieb und gehorsam ist, als jemanden entlarvt, der sich richtig böse verhält und für diesen – für ihn ein Widerborstling – die Abschiebung die Folge ist. Daß er seine eigene Gemeinheit erkennt, sie aber durchzieht, ist seinem Gesicht anzumerken. Und hier ein Kompliment an die, die die jeweiligen Schauspieler aussuchten. Sie passen wunderbar in ihre Rollen, sozusagen auf den Leib geschrieben und geschneidert!

Das gilt auch für Petra, die die vielschichtigste Rolle hat. Denn in der nicht mehr jungen Frau kommen beim Helfenwollen alle möglichen eigenen Interessen ins Spiel. Erst einmal hat die Situation in ihrem gepflegten Heim mit dem jungen Syrer eh schon einen Hautgout, der sich zu einem Bevormunden und Überheblichkeitsgestus verdichtet, wenn sie – tolle Szenen – im Leopoldmuseum in Wien dem jungen Mann die Zeichnungen und Lithografien von Egon Schiele zeigt, der deretwegen zu Kaiserszeiten wegen Pornographie in den Kerker kam. Die Zeichnungen sind wirklich wunderbar, aber an ihnen die Akkulturation eines islamisch geprägten jungen Mannes vollziehen zu wollen, so ungefähr das Dümmste, ja Falscheste, was man sich vorstellen kann. Kompliment an die beiden Drehbuchautoren, außer dem Regisseur noch Senad Halilbasic, beide mit Migrationshintergrund, dies so auf den Punkt zu gebracht zu haben. Auf jeden Fall reagiert Mohammed völlig normal, wenn er nur nackte Frauen sieht und solche Darstellungen von Frauen ablehnt, nur sein Argument, die seien ja durch Augen eines Mannes gemalt, diese Nacktheit und nicht durch die der Porträtierten, klingt nicht muslimisch, sondern heutig. Und daß sich Unterlegenheits- und Überlegenheitsgefühle dann in einem wilden Ritt über den Bodensee entladen, den man zudem in einem für andere Geschäfte vorgesehenen Raum in einer Ausstellung vornimmt, ist psychologisch verständlich, erst recht, wo der junge Mann die Zwanzig längst überschritten hat, aus Marokko kommt, aber für seine Frau und das Baby hier nach besseren Lebensbedingungen sucht. Auch eine tolle hinterfotzige Idee, die oft genug Wirklichkeit ist, das Tauschen von Identitäten und Herabsetzen des Lebensalters.

Das, was alle vier Geschichten eint, ist, daß es anders ausgeht, als gewollt. Dabei wird mit keinem Wort, mit keinem Bild das Helfenwollen diskreditiert, wohl aber die naive zudringliche Weise, in der man sein eigenes Motiv Hilfsbedürftigen überstülpt. Das macht der Film, das macht der Regisseur auf seine, überaus dezente Weise.

Das ist im Übrigen ein Film, der nachwirkt. Mit dem Darüberschreiben höre ich nur auf, weil dies genug Text ist. Ich könnte noch stundenlang weiterschreiben. Den nächsten Film von David Clay Diaz werde ich mir auf jeden Fall besorgen!

 Foto:
©Verleih

Info:
ME, WE
(Österreich 2020, 115 Min, dt. OF)
Besetzung
Lukas Miko, Verena Altenberger, Barbara Romaner, Alexander Srtschin, Mehdi Meskar, Anton Noori, Wonderful Idowu, Bagher Ahmadi, Peter Strauss,
Raphael von Bargen, u. a.

Regie:  David Clay Diaz
Buch :  David Clay Diaz, Senad Halilbasic