geraldSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 6. September 2022, Teil 17

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Da staunte ich nicht schlecht, als ich mit verschiedenen öffentlichen Verkehrsmitteln doch fast eine Stunde bis zur Jägerallee, Haltestelle der 11 und 21, brauchte – und kein Kino sah! Denn dort sollte doch Freitag, 30. September um  20.00 Uhr im Cinestar Frankfurt, Mainzer Landstraße 681, 65933 Frankfurt am Main die Frankfurtpremiere von ME, WE stattfinden. Im Cinestar, ein Kino, das den breiten Kino-Massengeschmack auch im Frankfurter Westen und die umliegenden Städtchen und Dörfer bedient.

Und da kommt wohl niemand mit der Straßenbahn, denn ich war schon lange am Kino vorbeigelaufen, weil ich an der Mainzer Landstraße nur den Toom-Markt sah, als aber auch weiterhin alles dunkel blieb, ging ich zurück, fragte Leute, die des Weges kamen und erfuhr, daß die Rückseite des Marktes das Kino beherberge. Und kaum war ich am Gebäude nach rückwärts gelaufen, sah alles nach Kino aus: großer, beeindruckende Treppe nach oben, Eingangsfoyer und denn die Kinos den Nummern nach aufgereiht. Wir waren in Nr. 2. Daß ich die einzige aus der Frankfurter Kritikerszene blieb, kann ich nur auf das für Innenstadtjournalisten ferne Cinestar – ein großes gibt es ja im Metropolis, Eschenheimer Tor – schieben und auch darauf, daß dieses Kino für andere Filme steht als WE, ME. Eine solche Premiere hätte in den Arthouse-Kinos, im Cinema, Harmonie, Eldorado, Mal Seh’n oder auch stattfinden sollen.

Daß dann doch alles ganz anders ist und die aus Wien angereiste Crew sich beim Cinestar bedankte, hat damit zu tun, daß für diesen Tag relativ kurzfristig nur hier Platz war, Platz für den Film und eine anschließende Diskussion mit dem Publikum. Also denn. Das Wichtigste zuerst: Es hat sich gelohnt! Der Film sowieso, wie Sie der vorangehenden Rezension entnehmen können. Aber, mit den Menschen sprechen zu können, die eben noch in ihren Rollen auf der Leinwand spielten, kommt nicht oft vor, denn meist reisen mit den Filmen nur die Regisseure oder der Hauptdarsteller.

An diesem Abend konnte man erkennen, wie verschiedene Beteiligte, Regisseur David Clay Diaz, Verena Altenberger (Marie), Lukas Miko (Gerald) und Mitglieder der Stuff, auch des Vertriebs sich für diesen Film engagieren.

Über den Film reden, ist das eine, aber so ein Beieinandersein – Verena Altenberger, im Film dunkel und langhaarig, hier mit kurzen blonden Haaren, aber derselben zupackenden Art wie im Film, hatte alle ganz nach vorne gebeten – gibt eben auch die Möglichkeiten der Fragen, der Rückfragen zum Film.

So hatte ich beispielsweise die letzte Handlung der Marie, die trotz fehlender Erlaubnis mit einem untauglichen Boot hinaus auf’s Meer fährt, weil sie dort in der Ferne Geflüchtete zu erkennen glaubt, als Fata Morgana erlebt, im Film wird aber gleich anschließend im Fernsehen von Geretteten geredet, so daß ich meiner eigenen Einschätzung nicht mehr glaubte. Aber doch, meine erster nachdrücklicher Eindruck war richtig, sie kommt alleine zurück, das Fernsehen zeigt eine andere Situation. Der Knackpunkt an dieser Szene, die man wirklich intellektuell und filmisch genießen muß, ist die Umkehrung der Verhältnisse. Eigentlich ist sie nach Lesbos gekommen, um anderen zu helfen, aber sie wird hier die erste Gerettete, deren Körper mit Goldfolie umwickelt wird. Diese Szene ist symptomatisch für den ganzen Film, denn wir alle müssen unser Helfenwollen hinterfragen. Die Motive genauso wie die Methoden.

Marie ist noch diejenige mit den edelsten Motiven und doch ist ihre Methode, einfach loszulegen, kontraproduktiv. Mir als eine, die noch die Diskussion in Westdeutschland Ende der Siebziger und Achtziger um die Hilflosen Helfer im Gedächtnis hat, ist die Frage nach den Motiven von Helfenden seither immer gegenwärtig. Damals war es vor allem Wolfgang Schmidbauer der die helfenden Berufe unter die Lupe nahm mit dem Ergebnis, daß diejenigen die helfende Berufe ergreifen, meist die sind, die selber Hilfe, psychische, soziale...brauchen. Einen Helferberuf zu ergreifen, ist sozusagen die Spitze des Eisbergs, das Helfen bedeutet und wenn Gerald im Film ein Heim für jüngere männliche Asylanten leitet, ist dies eher eine bürokratische Ausformung von Helfen.

Es ist das Übergriffig werden, was dem Zuschauer bei mindestens zwei der vier helfenwollenden Protagonisten wie ein Knödel im Hals stecken bleibt. Am gemeinsten bei Gerald, am widerlichsten bei Petra. Bei Gerald ist es nur das Gefühl, daß dieser junge Mann seine Autorität in Frage stellt, die ihn erst ausrasten läßt und dann dazu führt, daß, als die Polizei in den Spinden der Asylanten nach Rauschgift sucht, er Haschisch in einem der Spinde findet und dies in den Spind des jungen Schwarzen legt, der verhaftet und anschließend abgeschoben wird.

Petra nun wiederum will nicht nur ihre Autorität ausüben, sie will darüberhinaus an Mohammed Gehirnwäsche betreiben. Sie will den Muslim zu einem Katholiken machen, der alle Werte dieser Religion übernimmt und lebt. Daß dies durchaus widersprüchlich ist, sieht man an ihrem Engagement für Egon Schiele, ihre Überhöhung der Kunstmeinung der Zeit – noch einmal, die Zeichnungen der nackten, meist sehr jungen Mädchen sind mir ein Kunstschatz besonderer Güte -, steht hundert Prozent im Gegensatz zur fraueneinschränkenden, ja eigentlich frauenverachtenden Ideologie der überall amtierenden Islamisten. Und dennoch hat dieser Mohammed auf dem Hintergrund seines Wissens recht, wenn er auf Petras Elogen antwortet: „Ich sehe hier nur nackte Frauen“.

Man könnte den ganzen Film hindurch lauter kleine Szenen herausgreifen, die im Gefüge des Films Puzzlesteine sind, die sich zum Filmmosaik zusammenfügen. Wie gesagt, je länger man darüber nachdenkt, um so besser wird der Film. Denn er kann gar nicht anders, als auch diejenigen, die zur Premiere gekommen waren, sich anschließend fragen zu lassen, weshalb sie einen Film über Flüchtlinge sehen wollten, wieso sie ihn gut fanden und was sie aus ihm gelernt haben.

Ein richtig guter Abend! Aber wo ist er zu sehen, der offiziell am Donnerstag in den deutschen Kinos angelaufen ist? Derzeit in Frankfurt nicht.

Es hieß, daß der Film im Mal Seh’n Kino im Nordend gezeigt wird. Derzeit noch nicht, aber wir hoffen, daß dies noch kommt. Es lohnt. 
MAL SEH'N KINO
Adlerflychtstr.6 Hhs
60318 Frankfurt

Foto:
Gerald mit seinem Problem
©Verleih

Info:
ME, WE
(Österreich 2020, 115 Min, dt. OF)
Besetzung
Lukas Miko, Verena Altenberger, Barbara Romaner, Alexander Srtschin, Mehdi Meskar, Anton Noori, Wonderful Idowu, Bagher Ahmadi, Peter Strauss,
Raphael von Bargen, u. a.

Regie:  David Clay Diaz
Buch :  David Clay Diaz, Senad Halilbasic