Bildschirmfoto 2022 10 13 um 21.52.43Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 13. Oktober 2022, Teil 6

Claus Wecker

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Stark autobiografisch geprägt ist dieser Film über eine Kindheit in einem kurdisch-syrischen Dorf nahe der türkischen Grenze. Regisseur Mano Khalil erzählt von mehreren widrigen Umständen, denen Sero, sein sechsjähriges Alter Ego, ausgesetzt ist. Er lebt nicht nur an einer mit Stacheldraht befestigten Grenze, sondern auch in einem Land, in dem die kurdische Kultur seiner Familie unterdrückt wird.

Der erwachsene Sero wird in einem Flüchtlingslager von Vertretern einer Hilfsorganisation befragt. Er erinnert sich an seinen recht jungen Onkel Aram, mit dem er vor vierzig Jahren die türkischen Grenzsoldaten geärgert hat. Beide ließen sie Luftballons an der Grenze aufsteigen und freuten sich wie die Schneekönige, wenn diese von den Türken abgeschossen wurden.

Danach denkt er an den neuen Lehrer, der aus Damaskus in das Grenzdorf geschickt worden war, um die Bewohner ideologisch auf Vordermann zu bringen. Seine besondere Aufgabe bestand darin, die Schulkinder auf den Sozialismus der syrischen Baath-Partei und auf deren Führer Hafiz al-Assad einzuschwören. »Ab sofort nennt ihr mich nicht mehr Lehrer, sondern Genosse«, belehrt er die Erstklässler und redet sie auch selbst mit »Genosse« an, lässt aber jeden Respekt ihnen gegenüber vermissen.

Fortan wird in der Schule nur noch Arabisch gesprochen, eine Sprache, die der kleine Sero nicht versteht. Und auch eine Sprache, die er lernen müsste, um sich nicht nur an den Bildern der Zeichentrickfilme zu erfreuen, die ihn begeistern. Ein Fernseher ist sein größter Wunsch. Aber für ein Gerät benötigt man Strom, und bislang wird das Dorf nicht mit Elektrizität versorgt.

Der kindliche Wunsch nach einem Fernseher und Seros Abneigung gegen das Transistorradio, in dem nur geredet wird, gehören zu den amüsanten Seiten des Films.

Der jetzt in der Schweiz lebende Kurde Khalil hat in der ehemaligen Tschechoslowakei Spielfilmregie studiert und sich dabei offenbar auch von der dort hoch entwickelten Kinder- und Familienfilm-Tradition inspirieren lassen. Weil er aber keine europäische Geschichte erzählt, bei der er allgemeine Kenntnisse über die gesellschaftlichen Hintergründe voraussetzen könnte, verlässt er bisweilen die kindliche Vorstellungswelt und schildert die Probleme von Seros jüdischen Nachbarn oder die korrupte Praxis bei der Visa-Vergabe in Syrien.

Die strikte Arabisierung hat auch bei den Erwachsenen amüsante Momente, wenn etwa eine mit dem Tieflader herbeigekarrte, ausgewachsene Palme angepflanzt wird und einer der alten Männer ihr Absterben im strengen kurdischen Winter prophezeit.

Sie hat aber eine bitter ernste Seite, wenn der Lehrer gegen die Juden hetzt, die Palästina geraubt hätten und bekämpft werden müssten. Er lässt die Jungs auf eine große Strohpuppe, die den jüdischen Feind darstellen soll, mit dem Messer einstechen und ihr gewissermaßen zur Krönung den Kopf abschneiden, was nur mit Mühe gelingt.

Das Ganze entzieht sich natürlich dem Verständnis des kleinen Sero. Er und seine Familie sind mit ihren jüdischen Nachbarn befreundet. Sero verehrt die hübsche, zur Frau aufblühende Tochter und darf die Sabbatlichter anzünden. Er bekommt zwar die zunehmende Unruhe unter der jüdischen Bevölkerung mit, kann sie sich aber nicht erklären.

Mit seinem Bemühen, das Kinopublikum über die Zustände im kurdischen Teil Syriens während der frühen 80er Jahre zu informieren, beeinträchtigt Khalil ein wenig die Atmosphäre seiner wunderbar einfühlsamen Schilderung von Seros Welt. Dennoch gehört »Nachbarn« mit mehr als 30 Auszeichnungen, die der Film nach Verleihangaben auf über 170 internationalen Filmfestivals erhalten hat, zu den wenigen Entdeckungen im aktuellen Kinoprogramm.

Foto:
©Verleih

Info:
NACHBARN (Neighbours)
von Mano Khalil, CH/F 2021, 124 Min.
mit Serhed Khalil, Jalal Altawil,, Jay Abdo, Zîrek, Heval Naif, Tuna Dwek
Drama / Start: 13.10.2022