Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 20. Oktober 2022, Teil 5
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Woher kommt das wohl, daß gegenwärtig aber auch überall eines überdeutlich wird, daß das Verschweigen Monster gebiert. Auf der Verleihung des Deutschen Buchpreises waren sozusagen von der Endauswahl der letzten Sechs mindestens fünf unter dem Stichwort VERSCHWEIGEN einzuordnen, wobei es immer um das Schweigen in den Familien geht. So auch hier.
Die ganze Zeit über mußte ich bei diesem so liebevoll und graphisch intelligent und verspielt gemachten Film über den Vater der Filmemacherin Uli Decker denken, mein Gott wie glücklich wären alle gewesen, er hätte die Wahrheit über sich gesagt. Die Wahrheit äußerte die Mutter den beiden Töchtern gegenüber erst direkt vor seinem Sterben am Krankenhausbett: „Euer Vater war Transvestit.“ Aber sie fuhr fort: „Ihr dürft mit niemandem darüber reden. Der Papa war ein anderer.“
Die jünger Tochter daraufhin: „Scheißegal, weil er gerade stirbt.“ Sie hat tausend Fragen, die sie nun nicht mehr stellen kann. Die ältere wird diesen Film drehen, in dem Mutter und Schwester die Zeugen der familiären Situation sind, in denen der Vater immer als Schatten in der Familie lebte. Schatten, weil er eben nicht ins Licht trat, sondern relativ unverbindlich seinen Töchtern gegenüber blieb. Daß sich Vater Decker, geb. am 10. Mai 1936 und durch einen grausamen Unfall als Sechzigjähriger ums Leben gekommen, auch erst sehr spät seiner Frau öffnete, hatte mit seiner Angst zu tun, als er eines Tages ein Frauen-Spitzenhemd im Bad vergessen hatte, die Mutter es der Tochter zurückgeben wollte, der es gehörte, aber beide noch nie das Stück gesehen hatten, bzw. als Eigentum besessen. Erst jetzt erzählt der Ehemann seiner Ehefrau, was wir im Film als seine Erzählung von Anfang an mitbekommen, daß er schon 1946/47 sich mit den Kleidern seiner Mutter schmückte, was kein Problem war, weil die Eltern beide berufstätig waren und er gegen Abend alles wieder zurücklegte und sich eine ausgefeilte Technik zulegte, damit alles wieder an seinen Platz kam, vor allem die Unterwäsche. Daß seine Mutter nichts geahnt hat, kann man nach dem Erzählten kaum glauben. Aber sie hat nie etwas gesagt. Zum Verschweigen gehört also auch das Nichtfragen, wenn es dringend angemessen wäre.
Allerliebst wie dieser ja eigentlich schwermütige Film dann so heitere Bilder findet, in denen die Protagonisten durch die Luft schweben, genau: abheben u.a., das wie ein Kommentar zum Film wirkt. Animierte Szenen. Es sind diese Verbindungsstücke, die den Reiz des Films ausmachen.
Ein tieftrauriger Satz der Filmemacherin zum Abschluß Richtung Vater: „Verdammt, da haben wir uns ein ganzes Leben lang verpaßt.“ Denn die Tochter spürte ja, daß irgendetwas da ist, das irgendetwas nicht stimmt. Und den Film über läßt sie ihre eigenen geschlechtlichen Unsicherheiten, die eigentlich normal sind, sprechen. So wollte sie nie Kleider tragen, sondern Hosen, wollte auch kein Mädchen sein, sondern ein Junge und kam sich immer vor als eine, die zwischen den Geschlechtern changiert. Übrigens ein heikler Punkt, der im Film nicht vertieft wird, weil es fast so wirkt, als ob eine genetische Disposition angedeutet würde. Aber das überhören, übersehen wir, denn erstens sind – das wissen wir alle – nur die wenigsten hundert Prozent weiblich oder männlich und zweitens kann sich das auf vielfältige Weise ausdrücken.
Allerdings sind Transvestiten innerhalb der uneindeutigen Geschlechterrollen noch einmal eine besondere Gruppe. Magnus Hirschfeld hatte den Begriff Transvestitismus 1910 geprägt als „alle Menschen, die, gleich aus welchen Gründen, freiwillig Kleidung tragen, die üblicherweise von dem Geschlecht, dem sie körperlich zugeordnet sind, nicht getragen werden; und zwar sowohl Männer als auch Frauen.“ Im Begriff steckt das lateinische ‚vestire‘, bekleiden. Damit wird überhaupt nichts über die sexuelle Orientierung ausgesagt. Die kann hinzukommen, aber beim Ehemann Decker war es wohl so nicht, trotzdem wäre die Information interessant gewesen. Nur ging es der Filmemacherin Decker nicht um die Einordnung und Ausprägung von Männern in Frauenkleidern, sondern um ihren Vater. Wie häufig das übrigens vorkommt, konnten Frankfurter immer bei den Bahnhofsviertelnächten kennenlernen, wo es in der Nähe des Bahnhofs ein Geschäft gibt, wo es speziell für Transvestiten auf Leihbasis Kleider und Accessoires gibt, die Männer, die meist von ihren Frauen begleitet werden, dort für einen Abend leihen und beide anschließend gemeinsam ausgehen.
Daß war in Oberbayern nicht lebbar, in der Millionenstadt München schon. Aber genau das passierte nicht. Und so bleibt von diesem Film die tiefe Erkenntnis, die jemand wie ich sowieso hat, daß das Schweigen in Familien und das Verschweigen von Familiengeheimnissen grausam und töricht ist, weil sie echte Nähe verhindert.
Foto:
Eine ganz normale Familie, halt mit einem Geheimnis
©Verleih
Info:
Stab
Regie: Uli Decker
Buch: Uli Decker, Rita Bakacs