Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 10. November 2022, Teil 7
Redaktion
Paris( Weltexpresso) - Wie sind Sie auf das Buch von Antoine Leiris gestoßen?
Das Buch war eine Empfehlung meiner Tante. Ich habe es in einem Rutsch gelesen und war tief bewegt. So bewegt wie selten nach einer Lektüre. Vielleicht, weil die Lebenssituation von Antoine vor dem Anschlag so eng an meinem eigenen Leben ist – meine Tochter ist fast im selben Alter wie Melvil. Tags darauf habe ich meinen Co-Autoren Jan Braren und Marc Blöbaum bei einem Brainstorming von der Geschichte erzählt. Erst sollte ich ihnen ein paar Absätze daraus vorlesen, schließlich das ganze Buch. Die beiden hatten Tränen in den Augen. Da wussten wir, dass wir das machen müssen.
Was hat Sie letztendlich dazu bewogen, es zu verfilmen?
Ich fragte mich natürlich: Wie wäre es, wenn mir das passieren würde. Ein Angriff auf den inneren Kern meines Lebens, auf meine Familie. Auf das Liebste und Intimste. Diese Vorstellung ist schrecklich. Aber sie hat mich nicht mehr losgelassen. Das war wie ein unausweichlicher Sog.
Wie nahe sind Sie an der Vorlage geblieben und wo haben Sie sich Freiheiten erlaubt?
Unsere Perspektive war die eines mitfühlenden Freundes. Wir wollten dicht an der originalen Erzählung von Antoine Leiris bleiben. Ihren Ablauf zu verändern, hätte sich unlauter angefühlt. Antoines Geschichte ist sehr poetisch, sehr fein und rührend. Wir mussten also äußerst behutsam mit ihr umgehen. Wir haben seinen Text da wo nötig in eine dramatische Form gebracht. Der Nebenstrang mit seiner Familie kam als fiktionales Element hinzu, um Antoines innere Transformation erlebbar zu machen.
Der islamistische Terror ist im Wortsinn vermintes Terrain. Was gilt es zu beachten, wenn man sich mit dem Thema filmisch auseinandersetzt?
Uns ging es darum, den Tätern nicht mehr Raum als nötig zuzugestehen. Antoines berühmter Brief an die Attentäter versagt sich gerade dem Impuls, Hass mit Hass zu begegnen. Es wäre also falsch gewesen, den Tätern innerhalb der Handlung eine Bühne zu geben, ihre Gewalt aus Spannungsgründen auszustellen. Das wäre gegenüber den Opfern und ihren Angehörigen geradezu ein Vergehen gewesen. Unser Film zeigt die Innensicht eines Menschen, dessen Frau ermordet wurde. Dies war für uns der einzig denkbare Ansatz, über den Anschlag auf das Bataclan zu erzählen.
Die Medien beschäftigen sich nach Anschlägen primär mit den Tätern, darüber wird häufig der Blick auf die Opfer vergessen. Warum glauben Sie, dass das so ist?
Anschläge wie in Paris treffen in allererster Linie die Opfer. Doch auch die Öffentlichkeit wird traumatisiert. Besonders in Paris, aber auch in vielen anderen Ländern. Diese Anschläge erstreckten sich in kurzer Zeit über die ganze Stadt. Das war eine eklatante Ohnmachtserfahrung. Diese Ohnmacht ist schwer auszuhalten. Die Fokussierung auf die Täter mag der Öffentlichkeit helfen, dieses Gefühl zu kanalisieren. Die Identifikation mit den Opfern hingegen ist schwer erträglich, weil so leicht vorstellbar ist, es könne einem selbst passieren.
Wie sind Sie beim Schreiben des Drehbuchs vorgegangen? Hatten Sie einen Austausch mit Antoine Leiris? Hat er Sie konkret unterstützt?
Ich habe Antoine nur zweimal gesehen. Beim ersten Mal ging es darum, sich kennenzulernen und Vertrauen zu gewinnen für eine mögliche Verfilmung. Die Rechte an seiner Geschichte waren weltweit begehrt. Aber Antoine war sich nicht sicher, ob er einer Verfilmung zustimmen wollte. Für mich war die Begegnung mit Antoine eine der emotionalsten Momente in meiner Arbeit als Regisseur. Weil ich wusste, dass wir hier nicht über irgendeinen Roman reden, sondern über Antoines Schicksal, das damals vor nicht einmal 24 Monaten seinen Lauf genommen hatte.
Nach dem Gespräch mit meiner Produzentin Janine Jackowski und mir hat Antoine einer Verfilmung zugestimmt. Er mochte unseren Ansatz und unsere Leidenschaft für seine Geschichte. Und er hielt es für eine gute Idee, dass wir den Film machen – also Deutsche, die nicht direkt am Epizentrum des Geschehens waren, sondern alles mit einer guten Distanz betrachten können.
Das zweite Treffen fand ein halbes Jahr später statt. Zusammen mit meinen Co-Autoren Marc Blöbaum und Jan Braren befragte ich Antoine zu allen Details seiner Geschichte, um unsere Verfilmung so wahrhaftig wie möglich zu machen. Antoine hat uns alles erzählt, was ihm innerlich möglich war. Und er hat uns gesagt, dass es von nun an unsere eigene Geschichte ist. Er wollte also nicht länger an ihr mitarbeiten, sondern sie freigeben.
Ihnen ist ein sehr intimer Film gelungen. Wie haben Sie es geschafft, sich in ihren „Helden“ einzufinden?
Ich begebe mich am Anfang jeder Inszenierung immer auf eine doppelte Reise: Die äußere und die innere Recherche. Im Außen recherchieren wir schon während der Bucharbeit sämtliche Details der Geschichte: wir erfuhren, dass Antoine aus einem Örtchen nahe Paris stammte, aber als einziger seiner Geschwister den Sprung in die Großstadt gewagt hatte. Dass Antoine sich selber als „Bobo“ (bourgeois und bohèmien) bezeichnete, vorher Radiojournalist war, sich nun aber an einem Roman versuchte usw. All diese Details konditionieren uns beim Schreiben und mich später beim Inszenieren. Man beginnt nun zu imaginieren. Wie war sein Verhältnis zu Hélène, zu Melvil, zur Familie seiner Frau, zu den eigenen Geschwistern? Eine Psychiaterin, mit der ich seit mehreren Filmen zusammenarbeite, half uns, den seelischen Weg unserer Hauptfigur durch den Film zu begreifen. Und hier sind wir schon in der inneren Recherche. Wie würde ich reagieren, wenn ich derart getroffen würde. Von da an fühlt und entwickelt man wie ein Schauspieler. Writing means acting, heißt es. Darum geht es. Sich so mit Figur und Handlung zu identifizieren, dass alles unmittelbar wird.
Da Kino viel mit Identifikation zu tun hat, muss es sehr schwierig gewesen sein, den richtigen Hauptdarsteller zu finden...
Ich hatte mit Constance Demontoy eine hervorragende Casterin in Paris. Sie verstand das Buch vom ersten Moment und hat mir sehr schnell Pierre Deladonchamps für Antoine vorgeschlagen. Schon nach dem ersten Casting war ich mir sehr sicher mit Pierre. Er hatte dieselbe Verletzlichkeit und eine gewisse Noblesse, die ich auch bei Antoine beobachtete. Eine Wesensverwandtheit, die unerlässlich ist, wenn man eine reale Rolle spielt. Pierre ist ein ausgezeichneter Schauspieler. Er kann seelische Zustände sehr transparent und erfahrbar machen. Dieser Film ist eine seelische Tour de Force. Für die Figur Antoine und damit auch für Pierre. Es gab fast keine äußere Handlung, in die er sich hätte retten können. Fast alles war inneres Erleben. Das auszuhalten, den Prozess der Trauer immer wieder zu durchleben, das ist Pierres große Leistung in diesem Film.
Wie sind Sie bei der Besetzung allgemein vorgegangen?
Die Familie von Hélène war kabylischer Herkunft. Das wollten wir unbedingt im Cast widerspiegeln, weil es viel zur nötigen Ambivalenz unseres Films beiträgt: nicht eine weiße Französin ist hier bei diesem Anschlag gestorben, sondern eine Frau mit einem familiären Hintergrund, der fast sinnbildlich für das friedliche Miteinander der Kulturen und Religionen in Frankreich steht. Farida Rahouadj und Anne Azoulay spielen Mutter und Schwester von Hélène. Antoines Familie stammt im Kontrast dazu aus einem Örtchen nahe Paris. Im Film werden die Geschwister von den beiden belgischen Schauspielern Christelle Cornil und Thomas Mustin dargestellt. Neben Pierre Deladonchamps und Zoé Iorio war die Schlüsselbesetzung sicher Camélia Jordana, die Hélène mit all ihrer Wärme und ihrem Zauber verkörpert und eine große Bereicherung für unseren Film darstellt.
Ganz großartig ist die Besetzung Zoé Iorios als Melvil. Wie haben Sie das Kind gefunden? Wie hat es seine Zeilen „memoriert“? Wie fielen Ihre Regieanweisungen aus?
Ein dreijähriges Kind in einer tragenden Rolle – das schien eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Wir haben in Frankreich, Deutschland, Belgien und der Schweiz nach einem passenden Kind gesucht. Nach einigen Runden stießen wir auf Zoé. Sie hat uns vom ersten Moment an schwer verzaubert. Sie ist ein unglaublich koordiniertes und intelligentes Kind. Sie kann Gedanken spielen. Da wo andere Kinder beim Casting fröhlich durch den Raum stratzten und eben „nur“ handelten, machte sie innere Vorgänge erlebbar wie ein erwachsener Schauspieler. Die Entscheidung war keine wirkliche - Zoé war ein Glücksfall für uns.
Trotzdem blieb die Frage, ob Zoé im Drehprozess komplexere Handlungen spielen könnte. Sie konnte! – und das war entscheidend auch ein Verdienst unserer Kinder-Coachin Nouma Bordj, die mit Zoé über Monate trainiert hat. Dabei ging es um spielerisches Erarbeiten von Zuständen wie Traurigkeit und Euphorie. Aber auch um das Koordinieren der physischen Handlungen. Sagen Sie einem dreijährigen Kind mal, es soll mit seinen Bauklötzen spielen, im richtigen Augenblick zur Tür schauen und dann „Maman“ sagen. Hinter solchen scheinbar einfachen Momenten steckt lange Arbeit - und manchmal auch viel Geduld des Teams. Vor allem aber bin ich Zoé und ihren Eltern dankbar, dass sie uns vertraut und den langen Proben- und Drehprozess mit uns gemeistert haben.
Weitere wichtige „Darsteller“ sind die Sozialen Medien, die Nachrichten und die Mobiltelefone. Welche Überlegungen haben Sie angestellt, um diese technischen Gegebenheiten mit der hoch emotionalen Story in Einklang zu bringen?
Bei unserer Recherche stießen wir darauf, dass Antoine schon wenige Tage nach den Anschlägen mehrfach im Fernsehen bei Interviews auftauchte. Das erschien uns anfangs eher befremdlich. Erst nach einiger Zeit begriffen wir, dass Antoine diese Auftritte halfen, um innerlich zu überleben.
Die Geschichte von MEINEN HASS BEKOMMT IHR NICHT ist immer auch eine mediale. Antoine hat seine Antwort auf den Hass der Täter auf Facebook gepostet. Die öffentliche Anteilnahme war riesig. Sein Text wurde über 250.000 Mal weltweit geteilt. Das war für Antoine atemberaubend, sicher auch ein wenig unheimlich, vor allem aber war es tröstlich. Und so hat er seine Botschaft wieder und wieder medial verbreitet, vielleicht um sie am Leben zu halten – und mit ihr Hélène. Für eine Zeit mag ihn also der mediale Response über die tiefen Täler des Verlustes getragen haben. Doch irgendwann meldete sich eben die blanke Realität und forderte ultimative Konfrontation ein.
War es kompliziert das Projekt zu finanzieren?
Die deutschen Förderanstalten waren von unserem Projekt in seiner Bedeutung rasch überzeugt und haben uns voll unterstützt. Doch Kino ist teuer geworden. Gehälter sind angestiegen, weil derart viel gedreht wird, dass Fachkräftemangel herrscht. Aber auch Materialpreise z.B. beim Holz sind durch Corona gestiegen. Hinzu kam, dass der staatliche Ausfallfonds im Falle eines Drehstopps durch Covid anfangs auf sich warten ließ. Ohne diesen Fonds aber hätten wir schlichtweg nicht drehen können.
Eine Vielzahl von Produktionsfirmen und Sendern waren an der Produktion beteiligt. Hatte das Auswirkungen auf Ihre Arbeit oder ließ man Ihnen weitestgehend freie Hand?
Ich habe Produzenten und Sender oft viel mehr als Partner denn als Gegner erfahren. Das gilt insbesondere für die drei Produzenten dieses Films. Komplizen Film ist eine der führenden Produktionsfirmen Deutschlands mit etlichen nationalen und internationalen Erfolgen, vor allem aber einem großen Herz für das Kino. Mit Haut et Court in Frankreich und Frakas in Belgien hatten wir wertvolle Partner. Ein Film ohne sie – auf Französisch mit einem originär französischen und hochsensiblen Thema – wäre undenkbar gewesen. Aber auch mit dem NDR und ARTE verbindet mich seit HOMEVIDEO eine jahrelange, sehr vertrauensvolle Zusammenarbeit.
Sie haben während der Corona-Pandemie gedreht. Welche Schwierigkeiten warf das auf?
Maskentragen, tägliches Testen – man gewöhnt sich ja an vieles mit der Zeit. Schlimmer war, im Team auf Distanz zu bleiben, sich nicht umarmen zu können, nicht gemeinsam abends ein Bier zu trinken. Ein Filmdreh ist normalerweise ein sehr soziales Ereignis. Das muss auch so sein, vor allem wenn schwere Themen wie unseres verhandelt werden. Doch wir waren mitten im zweiten Lockdown. Ein absolutes Klosterleben führte da jeder einzelne. Drehen in einer Welt im Ausnahmezustand. Aber war das 2015 nach den Anschlägen anders? Vielleicht hat uns Corona sogar geholfen, die Welt von damals besser zu begreifen. Manchmal waren die Probleme aber natürlich auch ganz banal: Wie findet man eben mal drei Krankenhäuser zum Drehen – mitten in einer Pandemie!
Schematisch gedacht – wie haben Sie Ihren Film im Kopf gesehen? Als Liebesfilm, als Drama, als Introspektion...
Dies ist die Geschichte eines Mannes, der durch die Ermordung seiner Frau schwer getroffen wird und an seiner Verzweiflung und Hassgefühlen zu zerbrechen droht. Um zu überleben, muss er sich ganz auf die Liebe zu seinem Kind einlassen. Ein sehr intimes, seelisches Drama, das zwischen Leben und Tod, Himmel und Schattenwelten oszilliert.
Was sollen die Zuschauer aus dem Film mitnehmen?
Filme sind für mich emotionale, im besten Falle körperliche Erfahrungen. Was wir hier erfahren? Vielleicht, dass unsere Liebe zueinander schlussendlich doch stärker ist als der Hass in unserer Welt. Auch wenn die Kräfte des Hasses furchtbare Wunden schlagen können. „Mein Sohn und ich, wir sind stärker als alle Armeen der Welt“, schreibt Antoine in seinem Post. Das ist unsere Hoffnung. So fragil wie lebendig.
Foto:
©Verleih
Info:
Meinen Hass bekommt ihr nicht (Deutschland, Frankreich, Belgien 2022)
Originaltitel: Vous n'aurez pas ma haine
Genre: Drama, Literaturadaption
Filmlänge: 102 Min.
Regie: Kilian Riedhof
Drehbuch: Jan Braren, Marc Blöbaum, Kilian Riedhof und Stéphanie Kalfon
Nach dem Buch Meinen Hass bekommt ihr nicht von Antoine Leiris (2016)
Darsteller: Pierre Deladonchamps, Zoé Iorio, Camélia Jordana, Thomas Mustin, Christelle Cornil, Anne Azoulay, Farida Rahouadj, Yannuk Choirat u.a.
Verleih: Tobis Film GmbH
FSK: ab 12 Jahren
Kinostart: 10.11.2022