emily atefSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 1. Dezember 2022, Teil 8

Redaktion

Oslo (Weltexpresso) - MEHR DENN JE erzählt die Geschichte einer unheilbar erkrankten jungen Frau, die sich einer konventionellen Behandlung im Krankenhaus verweigert, um sich alleine auf eine existenziel- le Reise zu begeben. Wie entstand der Wunsch, diese Geschichte zu erzählen?

Meine Mutter litt zweiundzwanzig Jahre lang an Multipler Sklerose, im Alter zwischen fünfundfünfzig und achtundsiebzig. Zwei Jahre, nachdem ich angefangen hatte, über dieses Projekt nachzudenken, erkrankte sie an Krebs. Wir waren uns sehr nahe. Wir sprachen viel über ihren Zustand, sie selbst machte sich Gedanken darüber, wie sie Kranke begleiten, ihnen helfen könne, „loszulassen“. Während ich an der Geschichte schrieb, verschlechterte sich ihr gesundheitlicher Zustand, 2015 ist sie dann gestorben. Während ihrer Krankheit hat mir die Arbeit an dem Film geholfen, die richtige Einstellung zu finden. Sie hat mir die Kraft gegeben, ihr – auch wenn mich das persönlich sehr geschmerzt hat – zu sagen: „Du musst keine Chemo machen, wenn du nicht willst. Du tust, was du willst.“ Seit ich ein kleines Mädchen war, habe ich oft an diesen Moment am Lebensende gedacht. Wie kann ich mich dann so gut und frei wie möglich fühlen? Wie können wir uns vom Druck der Gesellschaft oder den Wünschen der Gesellschaft und denen unserer Lieben emanzipieren, aber unseren eigenen Weg finden, Krankheit und gegebenenfalls den Tod zu akzeptieren? Davon handelt Hélènes Geschichte.


Hélènes Reise ist allen Widrigkeiten zum Trotz sehr leuchtend und farblich intensiv gestaltet. War es für Sie der klare Wunsch, einen hellen, fast sonnigen Film über dieses Thema zu machen? 

Ja. In unserer westlichen Gesellschaft wird der Tod meistens als etwas Schreckliches, Dunkles, Dämonisches beschrieben. Ich sehe das nicht so. Natürlich ist es für uns Lebende extrem traurig, einen geliebten Menschen zu verlieren. Es ist herzzerreißend. Aber für die Person, die geht, sollte es das nicht sein. Leider hat der Tod in unserer Gesellschaft einen schlechten Ruf. Das ist sehr schade. Obwohl wir wissen, dass wir sterben werden – es ist unsere einzige Gewissheit! - ziehen wir es vor, das Thema zu vermeiden. Aber wir sollten darüber reden. Wenn ich bei diesem Film einen Wunsch habe, dann den, dass das Publikum angeregt wird, dieses Thema mit nahestehenden Menschen zu diskutieren. Das Lebensende sollte kein Tabu sein.


Hélène beschließt, nach Norwegen zu gehen. Warum dieses Land und nicht ein anderes?

Wegen des Lichts. Es gibt im norwegischen Sommer keine Nacht. Die Sonne geht nicht unter, es wird nie richtig dunkel. Dies schien mir in einer interessanten Wechselwirkung mit einem Buch zu stehen, das ich gelesen habe, „Die Nahtoderfahrung“. In diesem Buch sind Zeugnisse von Menschen gesammelt, die medizinisch betrachtet schon tot waren, oder anders formuliert: einen Tod erlebt haben. Sie alle sprechen von diesem Licht in jenem Moment, in dem sie diese Welt verlassen, und von weißen Formen. Während der Dreharbeiten in Norwegen habe ich versucht, ein Licht zu finden, das diese etwas mystische Offenbarung hervorruft. Als Hélène dort ankommt, ist das Licht so stark und allgegenwärtig, dass es sie überfällt und sie am Schlafen hindert. Es ist eine Erfahrung, die zunächst einen feindlichen, unangenehmen Aspekt hat.


Stehen die Location und die Umgebung sinnbildlich für etwas? Sollen sie uns etwas zeigen?

Ja! Sie zeigen, dass die Natur größer ist als wir selbst – größer als Hélène und ihre Krankheit. Die Natur ist beeindruckend und zeitlos. Und sie ist gleichgültig gegenüber unseren Problemen und unseren Ängsten. Inmitten der Fjorde wird man demütig.


Können Sie uns etwas über die Krankheit von Hélène erzählen? Ist sie eher als eine existenzielle Metapher zu verstehen?

Hélène leidet an einer seltenen Krankheit, der „Idiopathischen Lungenfibrose“. Die Lunge verhärtet sich, sie vernarbt und wird weniger elastisch, bis die Luft nicht mehr eindringt und die Person nicht mehr atmen kann. Es ist nicht bekannt, woher diese Krankheit kommt und wie man sie behandeln kann. Eine Organtransplantation kann eine Zeit lang helfen, aber nicht immer. Diese Krankheit symbolisiert das Leben von Hélène. Sie ist eine junge Frau, die nie wirklich das Leben gelebt hat, das sie leben wollte. Sie konnte nie so „atmen“, wie sie es wollte, sie hat Dinge für ihre Mutter getan, für ihren Mann ... Am Ende wird alles um sie herum immer klaustrophobischer. Sie bekommt immer weniger Luft. Aber paradoxerweise erlaubt ihr diese Krankheit, eine emanzipatorische Entscheidung zu treffen. Indem sie sich entscheidet zu gehen, beginnt sie endlich zu atmen. Sie wird sie selbst.


MEHR DENN JE ist auch ein Film über ein Paar. Ist es auch eine Liebesgeschichte?

Ja, diese Dimension des Films ist sehr wichtig. Es gibt keinen größeren Liebesbeweis als den, den anderen loszulassen. Matthieu, gespielt von Gaspard Ulliel, Hélènes Mann und Liebhaber, ist für mich der Held am Ende des Films. Denn er erlaubt Hélène, ihr Lebensende so zu gestalten, wie sie es wirklich will. Und auch wenn es für ihn selbst schrecklich ist, kann er sich im Spiegel ansehen und sagen: „Ich habe getan, was sie wollte.“ Er begreift, dass er sie verlassen muss, sie gehen lassen muss.


Am Anfang fällt es ihm jedoch sehr schwer, die Tatsache zu akzeptieren, dass sie sich einer klinischen Behandlung verweigert.

Ja, am Anfang. Er ist ein Mensch, der für das kämpft, was er will. Wir, die Lebenden, scheinen die Sterbenden nie nach ihrer Meinung zu fragen. Wir denken, wir wüssten, was sie wollen, weil wir aus Egoismus nicht wollen, dass sie gehen, dass sie uns verlassen. Wir wollen bis zu ihrem letzten Atemzug für sie da sein. Oft scheinen die Menschen in der Umgebung des Sterbenden fast mehr zu leiden als der Kranke und der Kranke verbringt seine Zeit damit, sie zu beruhigen. Für Hélène ist das sehr anstrengend. Sie muss eine wahnsinnige Energie aufbringen, um Matthieu zu überzeugen, der sie nicht versteht, um ihre Freunde zu beruhigen, die sie wie ein rohes Ei behandeln, um ihre Mutter aufzumuntern, die zusammengebrochen ist ... Die Worte von Mister, gespielt von Bjørn Floberg, bringen alles auf den Punkt: „Die Lebenden können die Sterbenden nicht verstehen.“


Mister ist der norwegische Gastgeber von Hélène. Welche Rolle spielt er für die Handlung und vor allem für Hélène?

Er ist der „Fährmann“. Dank ihm und seines Blogs, in dem er sich über seine Krankheit und seinen Tod lustig macht, trifft Hélène die Entscheidung zu gehen. Außer seiner Erkrankung hat Mister ein Trauma erlebt: Bei einem Unfall auf einer Bohrinsel verloren dreiunddreißig Menschen, die ihm nahestanden, ihr Leben.
Er hat eine sehr klare und ironische Art, mit seiner Situation umzugehen. Für ihn kann niemand die Bedingungen des Todes für andere wählen. Er ist ein Verfechter des freien Willens. Er erlaubt Hélène, sich selbst zu finden, ihren eigenen Weg zu gehen, ohne sie jemals in irgendeine Richtung zu drängen.


Der Film zeigt auf seltene und eindringliche Weise, wie ein Paar sich neu erfinden und die größte aller Prüfungen überstehen kann ...

Deshalb gibt es auch nur eine einzige Liebesszene, am Ende des Films. Hélène und Matthieu sind endlich auf derselben Seite. Sie können sich „mehr denn je“ lieben, weil er endlich akzeptiert, was sie will. Dann endlich ist zwischen ihnen eine Sinnlichkeit möglich. In dieser Szene sind wir ganz nah an ihrer Haut, wir fangen ihre fleischliche Intimität ein und die unglaubliche Liebe, die sie füreinander empfinden. In dem Moment, in dem sie den Gedanken an den Tod akzeptieren, ohne ihr gemeinsames Leben zu beenden.

Fortsetzung folgt


Foto:
Emily Atef
©deutschlandfunk.de

Info:
Darsteller
Hélène.       Vicky Krieps
Mathieu.     Gaspard Ulliel
Mister.        Bjørn Floberg
Doktor Girlotto.  Sophie Langevin
Mutter.   Valérie Bodson

Stab
Regie.    Emily Atef
Drehbuch   Emily Atef und Lars Hubrich

Abdruck aus dem Presseheft