mannfrauSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom Donnerstag, 8. Dezember 2022, Teil 1

Louis Séguin 

Paris (Weltexpresso) - Wie ist AN EINEM SCHÖNEN MORGEN entstanden?



Nach BERGMAN ISLAND kam dieser Film einfach zu mir. Im Winter 2019/2020 schrieb ich das Drehbuch, teilweise inspiriert von der Krankheit meines Vaters, als er noch lebte. Ich habe versucht, das zu verarbeiten, was ich durchgemacht habe. Und ich wollte erforschen, wie zwei gegensätzliche Gefühle, Trauer und Wiedergeburt, miteinander in einen Dialog treten können, wenn man sie gleichzeitig erlebt. Auch wenn es instabil ist, was Sandra und Clément zusammen haben, ist es vor allem geprägt von Freude. Bei ihrem Vater Georg überwiegt das Leiden. Die beiden Erzählungen existieren nebeneinander. Ich war daran interessiert, eine filmische Form zu finden, um diese Koexistenz sichtbar zu machen.


Der Film zeigt emotionale Beziehungen, die von Mangel und Abwesenheit gezeichnet sind.

Georg und seine Tochter Sandra teilen das gleiche Bedürfnis nach Liebe. Selbst als Georgs Erinnerung schwindet, bleibt er sich bis zum Schluss bewusst, dass er eine Person liebt, seine Lebensgefährtin Leila. Er vermisst sie und hat Angst, sie nie wiederzusehen. Auch für Sandra ist die Liebe lebenswichtig, die zu ihrer Tochter, zu ihrem Vater und dann zu Clément, der für sie immer bedeutender wird. Die Liebe in den Mittelpunkt des Lebens zu stellen, die Verletzlichkeit, die sie mit sich bringt, ist vielleicht auch das, was Georg und Sandra weiterhin zusammenhält, auch wenn sie nicht mehr miteinander kommunizieren können. Auf die eine oder andere Weise verbindet die Liebe die Figuren im Film. Das gilt auch für Sandras Mutter, die eher distanziert wirkt, aber für ihre Tochter und auch für Georg da ist, obwohl die beiden bereits seit 25 Jahren getrennt sind – auch das ist ein großer Liebesbeweis.


Sandra muss sich von ihrem Vater verabschieden.

Ich versuche davon zu erzählen, wie es ist, um jemanden zu trauern, der noch lebt. Georg ist nicht mehr der Vater, den Sandra kannte, aber er ist immer noch da. Auch wenn sein Geist verschwindet, bleibt ein Teil von ihm – seine Sensibilität, sein Wesen – bestehen. Ich wollte dieses Verschwinden und Fortbestehen gleichzeitig spürbar machen. Dieser auf den ersten Blick widersprüchliche Zustand ist für mich eine Quelle
großer Gefühle. Ich wollte die instinktive Verbindung zeigen, die über die Krankheit hinausgeht, sowie die Geschichte dieser seltsamen Trauer erzählen – um sie besser zu verstehen und den Schmerz zu überwinden, der lange Zeit alles vernebelt. Am Ende muss sich Sandra von ihrem Vater lösen, um ins Leben zurückzukehren, darin liegt etwas Egoistisches und doch Notwendiges. Sie nimmt das Glück an, das ihr geboten wird, aber es ist eine Form des Verlassens, des Vernachlässigens. Das erzeugt Schuldgefühle. Auch davon wollte ich erzählen.


Die Frage der Selbstaufopferung ist ein zentrales Thema im Film. Sandra drückt ihre Gefühle kaum aus, aber sie hilft ihrem Vater, seine Worte zu finden.

Sandra ist gefangen in dem, was sie gerade erlebt. Ihr Alltag ist voller Verpflichtungen: gegenüber ihrem Vater, ihrer Tochter, ihrer Arbeit als Übersetzerin, die darin besteht, die Gedanken anderer wiederzugeben und dahinter zurückzutreten. Es gibt nur wenige Momente, in denen Sandra ihre Gefühle ausdrücken kann. Weil sie bei ihren Besuchen immer versucht, ihren Vater zum Sprechen zu bringen, weil sie sich ihm, dem Ausdruck seiner Ängste und seines Leidens widmet, kann sie ihm nicht erzählen, was sie selbst durchmacht. Was ihre Beziehung zu Clément betrifft, so ist es in erster Linie eine leidenschaftliche Beziehung, in der wenig Platz für Worte bleibt. In der körperlichen Liebe kann sich Sandra
behaupten, mehr als mit Worten.


Auch das Erinnern zieht sich durch den Film: Die Erinnerung entgleitet Georg zunehmend, der darum kämpft, sie wiederzuerlangen, während Sandras Mutter das Bedürfnis zu haben scheint, sich von der Vergangenheit zu befreien.

Paradoxerweise ist die Erinnerung auf der Seite des Vaters. Das liegt wahrscheinlich an den männlichen und weiblichen Figuren in meiner Familiengeschichte. In den Geschichten, die ich erzähle, sind die mütterlichen Figuren eher der Zukunft zugewandt, die väterlichen sind grundsätzlich melancholischer. Ich habe das Gefühl, dass ich beides geerbt habe. Das ist die innere Spannung meiner Filme: die Versuchung, selbstzerstörerisch melancholisch zu sein, gepaart mit einer Art, das Leben, das Schicksal umarmen zu wollen.


In der ersten Szene steht Sandra vor der verschlossenen Tür ihres Vaters. Sie hat Schwierigkeiten, den Film zu betreten, und man ahnt, dass ihre Reise schwierig werden wird. In der letzten Szene ist der Horizont weit, und die Worte, die Clément an Sandras Tochter richtet („Dein Zuhause liegt direkt vor dir“), klingen wie ein Echo auf den Anfang des Films.

Im Drehbuch endete der Film eigentlich mit Cléments Frage: „Und dein Haus, wo ist es?“ Aber Melvils improvisierte Antwort während der Dreharbeiten ergab Sinn. Der Bogen des Films ist hier von Georgs geschlossener Tür bis zu einem Horizont, der sich am Ende für Sandra öffnet. Ich glaube nicht, dass ich einen Film machen könnte, der nur einen tragischen Ausgang hat. Es ist klar, dass es mit dem Vater kein Happy End geben kann. Er kann nicht gesund werden, seine Krankheit kann sich nur verschlimmern. Aber ich hätte den Film nicht machen können, um nur das zu erzählen. In meinen Filmen gibt es immer eine Bewegung in Richtung Licht, das ist für mich eine unverzichtbare Triebfeder.


Léa Seydoux spielt sehr bewegend.

Ich habe die Rolle mit ihr im Hinterkopf geschrieben. Ich hatte schon lange Interesse an ihr, aber es war diese Figur, die unsere Begegnung ermöglichte. Ich fand sie in ihren vorherigen Rollen großartig, aber ich wollte sie von einer neuen Seite zeigen. In den letzten Jahren wurde Léa Seydoux oft als Objekt der Begierde betrachtet. Sie verkörpert – auf sehr kraftvolle Weise – einen gewissen Sexappeal, einen gewissen
unkonventionellen Glamour. In Filmen ist sie oft sehr „zurechtgemacht“, sehr gestylt, fast verkleidet. Hier sieht man sie schlichter, sowohl in ihrem Aussehen als auch in ihrer Art zu sein. Ich wollte sie ihrer verführerischen Attribute entledigen. Sie mit kurzen Haaren zu zeigen, ist ein Teil davon. Ich wollte sie als Mutter filmen, in ihrem Alltag, bei der Ausübung ihrer Arbeit. Sie wird nicht nur als begehrenswerte Frau gesehen, sie schaut auch viel auf die anderen. Wir beobachten sie beim Beobachten und Zuhören. Ich sah darin eine Umkehrung, die es uns ermöglichte, ihrem inneren Charakter, ihrer Rätselhaftigkeit noch näher zu kommen. Und einer Traurigkeit in ihr, die mich tief berührte.


Wie fiel Ihre Wahl auf Pascal Greggory und wie hat er sich der Rolle von Georg genähert?

Pascal Greggory zu besetzen, war für mich naheliegend. Er ist ein Schauspieler, den ich schon immer geschätzt habe, und er entsprach genau dem, was ich für Georg gesucht habe, mit seiner Eleganz, seiner Zurückhaltung, seiner Sensibilität und sogar einer verblüffenden physischen Ähnlichkeit mit meinem Vater. Es mag ironisch erscheinen, ihn zu bitten, eine Rolle zu spielen, in der ihm die Worte entgleiten, ist er doch eine stilisierte Verkörperung von Sprache, insbesondere in Rohmers Werk. Aber es ergab Sinn, denn ich wollte, dass wir die Worte erahnen, die in ihm geschrieben stehen, um den Verlust umso stärker zu spüren. Ich hatte die Befürchtung, dass die Rolle Pascal Angst machen würde, aber das war nicht der Fall, ganz im Gegenteil. Die Darstellung dieser Krankheit hat ihn als Schauspieler interessiert, und ich glaube, dass ihn Georgs Sanftmut und Zurückhaltung sehr berührt haben. Es war ein großes Glück, mit ihm zu arbeiten, da er mir sein volles Vertrauen schenkte und ich ihn leicht führen konnte. Ich kenne diese Krankheit gut. Pascal machte sie sich zu eigen, mit Bescheidenheit, ohne jemals einer fabrizierten Darstellung zu verfallen – was ich auch nicht wollte. So waren Pascal und ich in unserer Herangehensweise an die Rolle in völliger Symbiose. 

Fortsetzung folgt

Foto:
©Verleih

Info:
AN EINEM SCHÖNEN MORGEN (Un beau matin)
von Mia Hansen-Løve, F/D 2022, 112 Min.
mit Léa Seydoux, Pascal Greggory, Melvil Poupaud, Nicole Garcia, Camille Leban Martins, Sarah Le Picard

Romanze / Start: 08.12.2022

Abdruck aus dem Presseheft