Louis Séguin
Paris (Weltexpresso) - Wie fiel Ihre Wahl auf Pascal Greggory und wie hat er sich der Rolle von Georg
genähert?
Pascal Greggory zu besetzen, war für mich naheliegend. Er ist ein Schauspieler, den ich schon immer geschätzt habe, und er entsprach genau dem, was ich für Georg gesucht habe, mit seiner Eleganz, seiner Zurückhaltung, seiner Sensibilität und sogar einer verblüffenden physischen Ähnlichkeit mit meinem Vater. Es mag ironisch erscheinen, ihn zu bitten, eine Rolle zu spielen, in der ihm die Worte entgleiten, ist er doch eine stilisierte Verkörperung von Sprache, insbesondere in Rohmers Werk. Aber es ergab Sinn, denn ich wollte, dass wir die Worte erahnen, die in ihm geschrieben stehen, um den Verlust umso stärker zu spüren. Ich hatte die Befürchtung, dass die Rolle Pascal Angst machen würde, aber das war nicht der Fall, ganz im Gegenteil. Die Darstellung dieser Krankheit hat ihn als Schauspieler interessiert, und ich glaube, dass ihn Georgs Sanftmut und Zurückhaltung sehr berührt haben. Es war ein großes Glück, mit ihm zu arbeiten, da er mir sein volles Vertrauen schenkte und ich ihn leicht führen konnte. Ich kenne diese Krankheit gut. Pascal machte sie sich zu eigen, mit Bescheidenheit, ohne jemals einer fabrizierten Darstellung zu verfallen – was ich auch nicht wollte. So waren Pascal und ich in unserer Herangehensweise an die Rolle in völliger Symbiose.
Georgs Worte ergeben oft keinen Sinn, lassen aber manchmal sehr poetische Wendungen zu.
Die Logik bricht zusammen, und die Poesie, die unwillkürlich entsteht und eine Folge der Krankheit ist, sagt viel über ihn aus. Aber es ist oft schwer zu unterscheiden, was Sinn ergibt und was nicht. Wie kann man wissen, was eine Absicht ausdrückt und was nur auf eine psychische Störung zurückzuführen ist? Diese Ungewissheit macht die Dinge noch schmerzhafter. Wie in der Szene, in der Georg den Wunsch zu äußern
scheint, sterben zu wollen – in einem Moment scheint es klar zu sein, und im nächsten wird alles wieder verworren und man kann sich seiner Absichten nie sicher sein.
Georg verliert auch die Freude an Dingen, die er einst liebte, wie die SchubertSonate (D959), die ihm seine Tochter vorspielt.
Die Szene, in der Georg nicht mehr Schubert hören will, ist das Herzstück des Films. Man möchte glauben, dass es noch möglich ist, Freude an der Musik zu empfinden, wenn die Worte verschwinden. Aber selbst das können sie nicht mehr teilen, denn die Musik tut Georg weh, indem sie ihn an ein vergangenes Leben erinnert, zu dem er keinen Zugang mehr hat. Dann auf der Rückfahrt vom Pflegeheim, im Bus, kehrt die Musik zu Sandra zurück, sie trägt diese Musik in sich, sie versucht, durch sie ihren Vater zu finden. Es ist ein etwas mystisches Gefühl; vielleicht ist durch Schubert noch eine geheime Kommunikation mit ihrem Vater möglich. Wie auch durch seine Bücher. Ich glaube an diesen Gedanken und finde ihn sehr tröstlich.
Es gibt auch ein Klavierthema, das mehrmals im Film zu hören ist.
„Liksom en herdinna“ ist ein Stück von Jan Johansson, einem schwedischen Komponisten. Wenn ich einen Film vorbereite, gibt es immer ein oder mehrere Stücke, die mich begleiten. Bei AN EINEM SCHÖNEN MORGEN war es dieses. Das Besondere daran ist, dass ich es in einem Bergman-Film, BERÖRINGEN (DIE
BERÜHRUNG), entdeckt habe, der von einer ehebrecherischen Leidenschaft zwischen zwei Personen erzählt, die von Bibi Anderson und Eliott Gould gespielt werden. Diesen Film, den Bergman ablehnte, den er vergessen machen wollte, verehre ich sehr. Was die Leidenschaft betrifft, so ist es vielleicht sein sinnlichster Film, der fleischlichste. Das ist aber nicht der Grund, warum ich Jan Johanssons Stück verwendet habe, sondern weil ich mich mit der Melodie identifiziere, in der sowohl eine Melancholie als auch eine Geschwindigkeit zu finden sind, die zum Gehen passt, das im Film immer eine Rolle spielt.
Das Motiv des „eigenen Zimmers“, des Raums der bewahrten Intimität, ist allgegenwärtig: Sandra muss sich ein Zuhause mit ihrem Liebhaber und ihrer Tochter teilen, und die verwirrten Bewohner*innen des Pflegeheims dringen ständig in Georgs Zimmer ein.
Wie viele andere wurde auch ich von Virginia Woolfs Essay „Ein Zimmer für sich allein“ geprägt. Sich einen eigenen Raum zu schaffen, in dem man schreiben, denken, träumen oder einfach nur allein sein kann, erschien mir schon immer wichtig. Wenn man eine Mutter ist, die in Paris lebt und nur über begrenzte Mittel verfügt, ist dieser Raum selten geschützt. Sandra wohnt in einer Einzimmerwohnung und schläft in
ihrem Wohnzimmer. Georg mietet eine kleine, charmante Wohnung, aber kaum hat er sie verlassen, wird sie
verlassen, wird sie den Besitzern zurückgegeben, sein Eigentum wird aufgelöst und sein ganzes Leben verschwindet. Von da an wird Georg nie wieder eine eigene Wohnung haben. In Krankenhäusern oder Altenheimen ist es ein ständiger Wechsel von Menschen, die in einem Zimmer ein und aus gehen. Hinzu kommt, dass Georg viermal den Ort wechseln muss. Ein bezahlbares und akzeptables Pflegeheim in Paris
zu finden, scheint fast unmöglich. Für seine Familie ist es wichtig, dass das Pflegeheim
nicht zu weit entfernt ist, damit sie ihn regelmäßig besuchen kann. Der Film sollte diese Schwierigkeiten aufzeigen, die zu den Leiden der Krankheit noch hinzukommen – selbst für Menschen, die nicht zu den sozial Schwächeren gehören.
Die Figur von Clément wird in der Geschichte nicht idealisiert. In seiner Beziehung zu
Sandra zeigt sich auch seine Schuld.
Bevor ich den Film schrieb, traf ich einen Kosmochemiker, der mir von seinem Beruf erzählte, und was ich dabei entdeckte, war sehr weit entfernt von den Klischees des Wissenschaftlers, der in einem Hightech-Büro sitzt. Es gibt einerseits diese Reisen, die mich beeindruckten, und andererseits einen bescheidenen und einfachen Alltag. Ich fand diese beiden Seiten poetisch und das gefiel mir. Ich wollte, dass Clément
von Anfang an Sandra und auch uns zum Träumen bringt, aber ich wollte auch, dass er real ist und nicht nur eine Filmfantasie. Deshalb habe ich in den echten Büros des besagten Kosmochemikers gedreht, die etwas veraltet sind, in den Laboren des Jardin des Plantes, die ich so gefilmt habe, wie sie waren.
Was Cléments Schuld betrifft ... Es stimmt, dass wir einen Mann sehen, der seine Frau betrügt. Manche mögen ihn verurteilen, aber das ist nicht meine Art, die Dinge zu sehen. Eine langjährige Beziehung geht für ihn zu Ende und eine neue wird geboren, was ihn überrascht ebenso wie die Schwierigkeit, sein Zuhause zu verlassen. Seine Beziehung zu Sandra wird zu einer Leidenschaft, der Clément nicht widerstehen kann. Gleichzeitig hadert er aber auch. Das ist nur menschlich. Die Tatsache, dass er sich nicht von heute auf morgen von seiner Frau lösen kann und gleichzeitig nicht stark genug ist, um Sandra nicht mehr zu sehen, ist für mich kein Grund zur Empörung. Es ist keine selbstverständliche Entscheidung, er braucht Zeit, und man kann es auch als einen Beweis für Sensibilität sehen. Clément ist in eine Frau verliebt, während er
mit einer anderen zusammenlebt, und findet sich in einer Situation wieder, die entweder banal oder universell ist, je nachdem, wie man sie betrachtet. In jedem Fall ist sie genauso schmerzhaft. Am Ende entscheidet er sich für ein Leben mit Sandra, die nicht vergeblich auf ihn gewartet hat. In meinen Filmen hat jede Figur ihre persönlichen Beweggründe. Ich filme nur Figuren, für die ich Empathie empfinde, unabhängig von ihren Schwächen, das war von Anfang eine Prämisse meiner Filme. Ich habe es genossen, Melvil in dieser Rolle zu filmen, einen Schauspieler, mit dem ich schon immer zusammenarbeiten wollte. Seine Ernsthaftigkeit, sein Charme, seine ewige Jugendlichkeit und die Präzision, mit der er spielt, machen ihn in meinen Augen zu einem idealen Schauspieler. Während der Arbeit mit ihm habe ich mich immer wieder gefragt, wie ich so lange darauf warten konnte, ihn zu treffen! Er hätte in all meinen Filmen mitspielen können.
Die Entscheidung, auf 35mm zu drehen, verleiht dem Film etwas sehr Weiches.
Auf Film zu drehen, bringt finanzielle Kämpfe mit sich, aber abgesehen von EDEN habe ich immer darauf bestanden, 35mm-Film zu verwenden. Bei AN EINEM SCHÖNEN MORGEN war mir das besonders wichtig, da ich in Krankenhäusern und Pflegeheimen gedreht habe, also in eher unfreundlichen Umgebungen. Der Dreh auf Film ermöglichte es mir, ihnen eine zusätzliche Seele zu verleihen, eine Poesie, die sonst schwer zu entdecken ist. Das erzeugt einen anderen Blick auf die Welt: vielleicht etwas weniger Schärfe, etwas mehr Distanz und gleichzeitig Empathie. Das ist schwer in Worte zu fassen, aber die Wahrnehmung ist eine andere. Ich habe immer versucht, die Realität so zu filmen, wie sie ist, klar und deutlich, aber ich habe auch versucht, sie in ihrer Schönheit zu zeigen. In meinen Augen eignet sich das analoge Bild besser für diese Form der Darstellung. Abgesehen von der materiellen Seite bevorzuge ich bei 35mm auch die Bewegung, die Abfolge der Bilder, die für den Dreh auf Film spezifisch ist und die vielleicht meine Beziehung zurzeit besser widerspiegelt. Als Zuschauerin kann ich alles mögen. Aber als Filmemacherin brauche ich den Dreh auf Film, um mich in die Fiktion zu versetzen.
Foto:
©Verleih
Info:
AN EINEM SCHÖNEN MORGEN (Un beau matin)
von Mia Hansen-Løve, F/D 2022, 112 Min.
mit Léa Seydoux, Pascal Greggory, Melvil Poupaud, Nicole Garcia, Camille Leban Martins, Sarah Le Picard
Romanze / Start: 08.12.2022
Abdruck aus dem Presseheft