she said1Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom Donnerstag, 8. Dezember 2022, Teil 4

Redaktion

Hollywood (Weltexpresso) - Eine Reportage löst eine Bewegung aus: Am 5. Oktober 2017 veröffentlichte die New York Times auf ihrer Titelseite einen Artikel der Investigativjournalistinnen Jodi Kantor und Megan Twohey, die die Unterhaltungsindustrie in ihren Grundfesten erschütterte und in den gesamten Vereinigten Staaten für Wirbel sorgte: „Harvey Weinstein hat seit Jahrzehnten Schweigegelder bezahlt, um Frauen mundtot zu machen, die ihn der sexuellen Belästigung beschuldigen“.


Hollywoodmogul Harvey Weinstein war über Jahrzehnte eine der mächtigsten Figuren der Filmindustrie. Als Gewinner von sechs Oscars® für den besten Film und Produzent von Titeln wie Sex, Lügen und Video, Pulp Fiction und Good Will Hunting war Weinstein ein Mann, der mit seinem enormen Einfluss Karrieren in Schwung bringen – oder beenden – konnte. Jahrelang, so berichteten Kantor und Twohey, soll er diesen Einfluss missbraucht haben, um Frauen zu belästigen und zu sexuellen Begegnungen zu zwingen.

Mit 3.321 akribisch recherchierten Worten dokumentierten die beiden Journalistinnen bis dahin unter Verschluss gehaltene Anschuldigungen bezüglich Rechtsverletzungen, die sich über drei Jahrzehnte erstreckten. Ihre Reportage war gründlich belegt durch Interviews mit aktuellen und ehemaligen Angestellten Weinsteins und Mitgliedern der Filmindustrie sowie juristischen Unterlagen, E-Mails und internen Dokumenten der Unternehmen, die der legendäre Manager geleitet hatte, Miramax und The Weinstein Company, beides wichtige Filmproduktionsgesellschaften in Hollywood. Ihre Untersuchungsergebnisse waren unanfechtbar. Durch Beharrlichkeit und die Mitarbeit vieler mutiger Opfer und anderer couragierter Zeugen konnten sie endlich die Wahrheit ans Licht bringen.

Seit Jahren hatte es Gerüchte über das Fehlverhalten Weinsteins gegeben, aber Journalist*innen, die versucht hatten, die Wahrheit herauszufinden, waren auf zögerliche Zeugenaussagen und drastische Einschüchterungstaktiken Weinsteins gestoßen. Die Opfer hatten zu große Angst, um gegen Weinstein auszusagen, oder wurden durch Abfindungen und Stillschweigevereinbarungen zur Geheimhaltung gezwungen. Und selbst wenn sie gegen ihn ausgesagt hätten, wäre es aus Ermangelung von Präzedenzfällen in der Vergangenheit kaum ins Gewicht gefallen. Im Verlauf der amerikanischen (und globalen) Geschichte wurden Frauen, die Anschuldigungen bezüglich sexuellen Fehlverhaltens gegen mächtige Männer hervorbrachten, als wahnhaft, rachsüchtig, gierig oder einfach als Lügnerinnen bezeichnet. Die Männer behielten ihre Macht. Die Frauen wurden ignoriert oder fielen in Ungnade. Trotz
wiederholter Versuche etablierter Journalist*innen im Verlauf von Weinsteins HollywoodRegentschaft blieb die Mauer des Schweigens um ihn – und andere Männer wie ihn – herum bestehen. Niemandem war es gelungen, der Sache wirklich auf den Grund zu gehen.

Die ungewöhnliche Kombination aus Wissen und Erfahrung – sowie ihre Entschlossenheit, die Vergehen ans Tageslicht zu bringen – machten Megan Twohey und Jodi Kantor zu einem idealen Team, um in monatelangen Ermittlungen die Anschuldigungen bezüglich sexuellem Fehlverhalten gegen Weinstein auf den Tisch zu bringen.

Im Lauf ihrer Karriere hatten es sich Twohey und Kantor zur Aufgabe gemacht, die Mächtigen zur Rechenschaft zu ziehen und ganz besonders Frauen und Kinder zu schützen. 2016 gab Twoheys Berichterstattung den Frauen eine Stimme, die Donald J. Trump beschuldigten, von ihm betatscht oder auf andere Weise sexuell belästigt worden zu sein. Sie deckte ein geheimes Untergrundnetzwerk auf, in dem Eltern unerwünschte adoptierte Kinder abgaben. Sie überführte Ärzte, die sexuellen Missbrauch praktizierten, und sie deckte die Systeme auf, die es ihnen ermöglichten, weiterhin zu praktizieren. Twohey war außerdem eine der ersten Journalist*innen, die ans Licht brachte, wie die Polizei und Staatsanwälte DNS-Beweise verschwinden ließen, die nach Sexualverbrechen gesammelt worden waren, und auf diese
Weise verhinderten, dass den Opfern Gerechtigkeit widerfuhr. Dank ihrer Geschichten konnten Sexualstraftäter gefasst werden, dank ihrer Geschichten wurden neue legale Schutzsysteme für Opfer möglich.

Kantors Berichterstattung über berufstätige Mütter und Stillen im öffentlichen Raum inspirierte zwei Leser*innen zur Einführung der ersten Stillplätze, die es nunmehr in Flughäfen und anderen Orten überall in den USA gibt. Ihr Artikel über das Durcheinander, das das automatisierte Dienstplanprogramm im Leben der Angestellten von Starbucks anrichtete, hatte Anteil daran, dass eine nationale Bewegung für gerechte Dienstpläne entstehen konnte. Ihre Reportagen über Amazon hatten einen nachhaltigen Effekt: Nachdem sie und David Streitfeld 2015 über Bestrafungsmaßnahmen im Firmenhauptsitz berichtet hatten, führte die Firma Elternzeit ein. Bei Recherchen in einem Lagerhaus in Staten Island stießen Kantor, Karen Weise und Grace Ashford auf ernstzunehmende Probleme in den Beschäftigungssystemen der Firma, die eine 150-prozentige Fluktuationsrate hatte. Die Journalistinnen entdeckten eine Reihe fehlerhafter Bezahlungen und unzulässiger Entlassungen, von denen auch Angestellte in Elternzeit betroffen waren. Den Angestellten der Lagerhalle halfen diese Informationen, um eine historische Gewerkschaftswahl zu gewinnen.

Die gemeinsamen Weinstein-Nachforschungen von Kantor und Twohey, begleitet von Redakteurin Rebecca Corbett, führten zu einer sich überschlagenden Welle von Reportagen über die Anschuldigungen gegen Harvey Weinstein, allen voran Ronan Farrows eigene Recherchen für den New Yorker im selben Monat. In den folgenden Wochen und Monaten meldeten sich immer mehr Frauen, um ihre Geschichten über erschütternde Begegnungen mit Weinstein und anderen Männern in Machtpositionen zu teilen. Die #MeToo-Bewegung, 2006 von der New Yorker Aktivistin Tarana Burke gegründet, wurde untrennbar mit diesen
Geschichten verbunden und entwickelte sich schnell zu einem zunächst nationalen, bald schon globalen Slogan und zu einem Sprachrohr für die Stimmen von Zehntausenden Opfern sexueller Belästigung oder sexuellen Missbrauchs weltweit. Es war, als wäre auf einmal ein Damm gebrochen. Nach Jahrzehnten, in denen viele glaubwürdige Anschuldigungen bezüglich Misshandlungen und selbst Vergewaltigungen auf taube Ohren gestoßen waren, schenkten endlich mehr Menschen den Frauen Gehör und Glauben.

Für ihre Berichterstattung wurden Kantor und Twohey schließlich mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet, und 2019 veröffentlichten sie ihren Bestseller über ihre Nachforschungen:„She Said“.

Fotos:
©Verleih

Info:
She Said (USA 2022)
Originaltitel: She Said
Genre: Drama, Sachbuch-Adaption, Weinstein Skandal
Filmlänge: ca. 128 Min.
Regie: Maria Schrader
Drehbuch: Rebecca Lenkiewicz nach dem Sachbuch von Jodi Kantor und Megan Twohey: She Said. Breaking the Sexual Harassment Story That Helped Ignite a Movement (2019)
Darsteller: Carey Mulligan, Zoe Kazan, Patricia Clarkson, Andre Braugher, Jennifer Ehle, Samantha Morton, Ashley Judd u.a.Verleih: Universal Pictures International Germany
FSK: ab 12 Jahren
Kinostart: 08.12.2022

 
Abdruck aus dem Presseheft