verlorenSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 22. Dezember 2022, Teil 2

Redaktion 


Paris (Weltexpresso) - Benjamin hat sich als fleischgewordene Selbstverständlichkeit durchgesetzt. Das ist das Ungerechte an einer „Gabe“, einem Körper für das Kino, an einem Blick, den die Kamera liebt. Ich machte lange Kostümproben, in denen er Gedichte aufsagte, lachte, weinte. Er war unschuldig, ohne dabei langweilig zu sein;
sinnlich, ohne vulgär zu sein; er sprach, wie die Leute damals, ohne gekünstelt zu wirken. Das ist etwas Unabdingbares im Kino, in dem die kleinste Geste anmutig wirken muss, ohne jedoch berechnet zu scheinen. Er war Rubempré, ein moderner Rubempré.

Alles fügte sich zusammen... Allein schon seine Selbstsicherheit gegenüber Depardieu. Sie haben dieselbe Art. Irgendwie animalisch. Cécile hat sich durchgesetzt, als ich mich entschied, die Figur der Louise zu vermenschlichen. Ihre Figur hat im Roman denselben Vornamen wie Darrieux in Madame De... von Max Ophüls, an den ich oft denken musste. Bei Balzac hat sie etwas Elendiges und Erbärmliches an sich, die zu jedem Opfer bereit ist, solange sie nur von der High Society akzeptiert wird. Ich wollte, dass ihre Entscheidung, Lucien zu entsagen, eine sensibleren und „tragischeren“ Grund hat; ich wollte, dass das soziale Umfeld ihre Gefühle nicht völlig zerstört. Ich wollte ihre Beziehung und ihren Altersunterschied nuancierter, komplexer und bewegender wiedergeben. Die Grausamkeit ihrer Liebeleien schien mir umso stärker zu sein, wenn ihre Liebesbeziehung geheim bleibt. Ich habe die Szene erfunden, in der die junge Coralie Louise besucht, um sie um Hilfe und auch darum zu bitten, ihr Lucien nicht „wegzunehmen“. Salomé Dewaels ist für mich eine großartige Entdeckung, auch wenn man sie schon in einigen kleinen Rollen sehen konnte. Sie hat diesen vollen, runden Körper, der perfekt zur Epoche passt, und gleichzeitig die Unschuld und Verspieltheit eines Mädchens von der Straße. Sie war übrigens Barkeeperin und sie hat mich überwältigt mit ihrer perfekten Aussprache und Betonung von Versen aus Bérénice während des Vorsprechens. Sie spricht diese Dialoge so natürlich aus, die manchmal direkt aus dem Buch übernommen sind und daher im Jargon des 19. Jahrhunderts geschrieben sind. Die Szenen, in denen Lucien und sie nach dem Liebesakt im Bett diskutierten, haben mich besonders mitgerissen. Wegen ihrer Jugend, ihrer Unbefangenheit, ihrer Unschuld. Ich dachte an ihr grausames Schicksal, an das ungerechte Opfern einer Jugend durch eine zynische Gesellschaft.

Wäre Lucien klüger gewesen, mehr wie Rastignac, hätte er die schreckliche Madame d’Espard verführt, die von der wiederum umwerfenden Jeanne Balibar gespielt wird. Jeder Zischlaut in den Dialogen, jeder Blick macht sie zu einer lustvollen und gleichzeitig bedrohlichen Gefahr. Vielleicht rächt sie sich auch dafür, dass Lucien keine Anstalten macht, sie zu verführen, und, was für sie noch unerträglicher ist, dass ein junger Bürgerlicher versucht, in die Aristokratie einzudringen. Die Grausamkeit der Zeit und ihres Sozialkampfes erschien mir umso gemeiner und einschneidender, wenn sie sich mit den Qualen unerwiderter Liebe paart.

„Und doch war ich gut...“: Dieser Satz hatte mich beim Lesen des Romans gepackt. Er ließ mich nicht los... Und Vincent Lacoste verleiht ihm einen schmerzhaften und zugleich lachenden Anstrich, einen Spott, der ein Scheitern, eine zurückgekehrte Berufung, eine Entsagung, eine verlorene Illusion verschleiert. Lacoste verleiht jedem Blick etwas Menschliches und Wahres und sein unglaubliches Lachen hallt selbst aus dem tiefen Abgrund eines vielleicht schon gescheiterten Lebens wider... Er ist witzig und tragisch in ein und demselben Schachzug, dem Schachzug der Eifersucht und des Verrats eines Freundes oder einer Freundin.

Wieder einmal wollte ich der Figur eine Chance geben, weil ihre Menschlichkeit ihr das Fleisch vom Leib reißt. Freundschaft als ein Wert, der von der „Meute“ zerfetzt wird, ist ein wesentliches Thema des Films; eines dieser höheren Gefühle, die durch die Besessenheit von Erfolg und Profit auf die Probe gestellt werden. Wohingegen Lousteau sich selbst verkauft, leistet Nathan Widerstand und „spielt mit all dem“, so wie er es Lucien beibringen will, um sein Talent zu schützen.

Für diese Figur wollte ich einen Künstler, eine Ikone. Einen Musiker, einen Schriftsteller. Oder warum nicht einen Filmemacher? Ich dachte schnell an Xavier Dolan, den ich wirklich bewundere als Filmemacher und Schauspieler. Er hat eine sehr pure Energie und ist außergewöhnlich intelligent. Er war vom Drehbuch begeistert und hat direkt gemerkt, was die Herausforderungen sind, angefangen mit dem Platz von Kunstschaffenden in dieser Welt sowie der Eitelkeit und der Vorliebe für Schönheit, trotz allem...

In unserer Zusammenarbeit waren wir sehr konzentriert und wie Komplizen; und das auch noch bei der enormen Stimmarbeit des Erzählers, der dem Film seine Ironie und Menschlichkeit verleiht. Er ist ein erfahrener Schauspieler, subtil und unberechenbar, außerordentlich engagiert. Im Film ist er eine Ikone seiner Zeit, die im Gegensatz zu Lucien oder Lousteau genau weiß, wie sie das, was sie antreibt, vor der sozialen und „medialen“ Komödie schützen kann. Seine Sichtweise bei diesen gigantischen Dreharbeiten kennenzulernen, war für mich wirklich anregend; eine Art innerliche Erinnerung an die Bedeutung einer persönlichen Vision und einem einzigartigen Ansatz.

Am Set war es für mich ehrlich eine Freude, ihn so eng mit Depardieu zusammenarbeiten zu sehen. Ich spürte etwas von der poetischen Geschichte des Kinos, zwischen dem Schauspieler in Loulou und dem Autor von Mommy. Depardieu ging richtig darin auf, einen Obst- und Gemüsehändler und zugleich Analphabeten
zu spielen, der jedoch durch seinen puren Geschäftssinn zum Sultan der Verlagsbranche emporstieg. Er ist ein wahrhaft genialer Schauspieler, was man anhand der Blicke spüren konnte, mit denen all diese jungen Schauspieler und Schauspielerinnen zu ihm schauten. Ihn so glücklich beim Spielen und Improvisieren zu sehen, verlieh uns eine unglaubliche Energie.

Abschließend möchte ich noch einige Worte über den genialen Jean-François Stévenin sagen, meinen Claqueur, dessen Anwesenheit beim Dreh unerlässlich war, um mich daran zu erinnern, dass ein Film ein Abenteuer bleiben muss. Dass man sich nicht vom System täuschen lassen darf, alles riskieren soll und nichts erwarten darf und seine Leidenschaft verteidigen muss, wie bescheiden sie auch immer sein mag. Sein Tod erschüttert mich.